Editorial Die Bundeswehr kann nicht zu Hause bleiben

Liebe stern-Leser!

Schön bequem war das damals, als die Welt auf unsere Geschichte Rücksicht nahm. Niemand wollte die Bundeswehr im Ausland einsetzen, wir selbst am wenigsten. Noch im Golfkrieg 1991 stellte Helmut Kohl den Amerikanern einen ordentlichen Scheck aus. Damit war die deutsche Beteiligung am Kampfeinsatz gegen Saddam Hussein erledigt. In den folgenden Jahren wuchs Berlins Bedeutung in der Weltpolitik - im Zentrum Europas zwischen Washington und Moskau. Schon im Kosovo-Konflikt konnte sich Kanzler Schröder nicht mehr freikaufen. Und nach dem 11. September 2001 war schnell klar, dass Bundeswehrsoldaten vor allem beim Wiederaufbau in Afghanistan helfen sollten. Heute ist Deutschland drittgrößter Beitragszahler der Vereinten Nationen, die drittstärkste Wirtschaftsnation, im G-8- Club vertreten, das bevölkerungsreichste Land der EU, Exportweltmeister, zweitgrößter Nato-Partner - kurz: ein bedeutender globaler Spieler. Und heute erwarten die Vereinten Nationen und die demokratischen Partner im Westen deshalb, was für Briten, Dänen, Niederländer oder Kanadier selbstverständlich ist: den Einsatz des Militärs, um internationale Konflikte zu lösen. Wenn der Bundestag im Herbst über das Afghanistan-Mandat neu entscheiden muss, darf zwar über das Wie gestritten werden, aber nicht über das Ob. Ein Rückzug ist eine unrealistische Option. Zu heftig dreht Deutschland mittlerweile am Rad der Weltpolitik.

Und um es deutlich zu sagen: Die bei ihrem Einsatz im Ausland umgekommenen Bundeswehrsoldaten sind der Preis für den Zugewinn an außenpolitischer Macht. SPD, Union und seinerzeit die Grünen wollten es so - also dürfen sie auch nicht herumdrucksen, wenn es um die traurige Seite der Medaille geht. Wir können nicht einerseits auf der Weltbühne eine Hauptrolle spielen und immer dann, wenn es wehtut, hinter den Kulissen verschwinden, weil das nationale Interesse plötzlich dominiert. "Nationbuilding", also der Aufbau von demokratischen Staaten mit einem staatlichen Gewaltmonopol, ist eine der großen Aufgaben, die, wenn überhaupt, nur die Vereinten Nationen übernehmen können. Bei diesem Job ist Deutschland in der Pflicht. Da kann die Bundeswehr nicht zu Hause bleiben.

Bislang ist der Isaf-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ein ziemlich erfolgreiches, sogenanntes zivilmilitärisches Aufbauprojekt. Es ist so etwas wie der "dritte Weg" zwischen ziviler Hilfe und Kriegführen. Aber das von der Regierung gern gepflegte "Freund und Helfer"- Image verschleierte in der Öffentlichkeit den Blick für die Risiken. Der Selbstmordanschlag auf dem Marktplatz von Kundus im Mai entlarvte diesen Selbstbetrug endgültig. Doch die Toten sollten in der Öffentlichkeit keine Namen und keine Gesichter haben. Die Unmittelbarkeit der Schicksale, so fürchtete wohl das Verteidigungsministerium, könnte den Bundeswehreinsatz in Misskredit bringen. Tatsächlich ist inzwischen die Mehrheit der Deutschen für einen Abzug der Bundeswehr. Zu einer sachlichen Debatte über die Auslandseinsätze gehört allerdings auch das Wissen um die Schicksale der Getöteten und um die Trauer der Angehörigen. Dazu gehört auch, ihrer zu gedenken. All dies mahnte stern-Vize Hans-Ulrich Jörges mehrmals in seinem wöchentlichen Zwischenruf an. Ende Juni schließlich erhielt Jörges ein Schreiben von Bundesverteidigungsminister Jung - mit allen Namen und Einheiten der insgesamt 69 Auslandstoten. Nach stern-Recherchen begingen 16 von ihnen Selbstmord. stern-Reporter nahmen Kontakt zu Eltern und Angehörigen der Opfer auf, um die Geschichten derjenigen zu erzählen, die ihr Leben lassen mussten in einem Einsatz im Auftrag der Weltgemeinschaft. Der Bericht beginnt auf Seite 26.

Herzlichst Ihr

Thomas Osterkorn

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