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"Das Phänomen Realfakes" Der Traummann aus dem Internet, der eine Frau war

Aus eínem Tweet wird eine Unterhaltung, aus einem Gespräch werden viele, aus Zuneigung wird Liebe: Das passiert online ebenso häufig wie offline. Als Victoria Schwartz die ersten Zweifel kommen, steckt sie mitten in ihrem persönlichen Krimi.
Von Susanne Baller

Wenn ein Sachbuch sich liest wie ein autobiografischer Krimi, hält man gerade das Werk von Victoria Schwartz in den Händen, "Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde: Das Phänomen Realfakes". Was die Hamburgerin erlebte, übersteigt das Vorstellungsvermögen eines jeden normalen Users. Und überstieg auch die Fantasie der Autorin, obwohl sie seit 20 Jahren online und damit Internetnutzerin der ersten Stunde ist. 
Victoria ist ein kommunikationsfreudiger Mensch, neugierig und aufgeschlossen, der es liebt, interessante Leute kennenzulernen, in der echten Welt ebenso wie online. Also hat sie, wie sie es auch sonst tut, bei Twitter auf einen Tweet an ihrer Pinnwand reagiert, obwohl sie den Verfasser nicht persönlich kannte. Nichts Ungewöhnliches bei Twitter, wo jeder die Texte von jedem lesen kann. Wo es genau darum geht, Neuigkeiten zu erfahren, sich auszutauschen. Der Twitterer hieß Kai und machte gerade Ferien.

Auf einer Wellenlänge

Ende September 2011 ging es los: Kai stellt sich ihr als Physiotherapeut aus Münster vor, der zurzeit bei seinen Eltern in den USA (Mama) und auf Jamaika (Papa) seinen Jahresurlaub verbringt. Die Intervalle, in denen die beiden kommunizieren, werden immer kürzer. Auf Victorias Bitte hin, erzählt er ihr sein gesamtes Leben, ihn wiederum interessiert alles aus ihrem. Er hört aufmerksam zu und nimmt in ihrem Alltag immer mehr Raum ein. 

Das Buch

Victoria Schwartz, "Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde: Das Phänomen Realfakes", Blanvalet, 316 Seiten, 12,99 Euro

Aus munterem Geplauder entspinnen sich intensive Gespräche, die beiden wechseln das Medium, kommunizieren per WhatsApp, via Facebook, erstellen einen eigenen Instagram-Account, auf den nur sie Zugriff haben, telefonieren. Sie kommen sich näher, sie verlieben sich, beide. Was liegt da also näher, als die Onlinebeziehung ins echte Leben zu überführen? Andere Menschen finden schließlich auch im Internet ihre große Liebe.

Verliebt und verarscht

Doch diese Geschichte mündet nicht vor dem Traualtar, sie klingt noch nicht mal mit einem missglückten Rendezvous aus, bei dem sich herausstellt, dass das virtuelle und das echte Leben manchmal arg auseinanderklaffen. Diese Geschichte endet mit einer detektivischen Meisterleistung und der Enttarnung eines sogenannten Realfakes. Eines Menschen, der nicht das ist, was er vorgibt zu sein. Eines Mannes, der nicht Kai heißt, der nicht so aussieht wie auf seinen Fotos, dessen Familie und Freunde allesamt erfundene Spielfiguren sind, der in Wirklichkeit nicht mal ein Mann ist. 

Bis Victoria das alles weiß, vergehen fast zwei Jahre. Nach vier Monaten hat sie die ersten Zweifel, nach zehn Monaten ist sich Victoria sicher, permanent belogen zu werden und zehn weitere Monate "spielt sie weiter mit", um das Rätsel um "Kai" endgültig zu lösen. Die Spurensuche braucht so lange, weil Kai sich bei der Schöpfung seines Alter Egos nicht nur mit einem frei erfundenen Freundeskreis umgeben hat, mit dem er jede Unstimmigkeit widerlegen, jeden Argwohn zerstreuen kann. Kai ist auch in Victorias Real Life, außerhalb des Internets, vorgedrungen. Mit allem was dazugehört außer der eigenen Präsenz: Briefen, Postkarten, Geschenken – auch für ihre Kinder. "Die besten Männer sind Realfakes, die Frauen sind", lacht Victoria im Interview mit dem stern. Und meint das natürlich nicht ernst.

Warum sollte sie jemand belügen und beschenken? Bei dem finalen Coup half Victoria 2013 schließlich der Journalist Tin Fischer, der Victorias Geschichte für "Neon" recherchierte, Kai suchte – und in den Südstaaten eine Psychologin an einer Universität fand, die zunächst alles leugnete, dann aber gestand. Für seine Arbeit bekam Fischer den "Henry Nonsens Preis". Victoria hat die Frau nie persönlich kennengelernt, würde es aber gern. "Ich bin von Natur aus total neugierig", sagt sie. Angst vor einer Begegnung hatte sie nie. 

Eine Psychologin aus den USA

Einige seiner Fake-Ids pflegte "Kai" über zehn Jahre, sodass sie völlig echt aussahen. Wann macht man das alles? Dauerpräsenz im Internet, unter verschiedensten Accounts lange und ausführlich schreiben, dazu Post, Geschenke, Telefonate mit Sprachverzerrer ... "Wenn es bei mir neun Uhr abends war, saß sie in der Uni, da war es bei ihr früher Nachmittag", erzählt Victoria Schwartz. "Sie hatte dort ein Einzelbüro, das hat Tin Fischer ja gesehen." Realfake bei der Arbeit, im Privatleben eine Frau mit unterdrückten sexuellen Neigungen in einem wertekonservativen Bundesstaat.

Die ungeheure Akribie, mit der "Kai" seine Onlinewelt gestaltet, die Tricks, die er angewendet hat und die Fehler, die er machte: In ihrem höchst persönlichen Buch geht Victoria Schwartz mit derselben Gewissenhaftigkeit vor, um ihm auf die Schliche zu kommen. Amüsant und manchmal augenzwinkernd, aber durchgehend fesselnd und schonungslos. Ihre bewundernswerte Offenheit, das Vorwort von Sascha Lobo und die fast 100 Seiten des zweiten Teils, der das Phänomen Realfakes beleuchtet, zahlen auf die Gattung Sachbuch ein. Aber nicht auf deren angestaubtes Image.

Erfahrung weitergeben

Ebenso engagiert wie bei der Aufklärung gibt sich Victoria auch der Fortsetzung hin: Sie beschließt, ihre Erlebnisse in ihrem Blog aufzuschreiben, um andere zu warnen. Sie will zeigen, dass es selbst internetaffinen Menschen passieren kann, einem Onlinebetrüger aufzusitzen. Einem, der nicht ihr Geld will, sondern ihre Liebe und Aufmerksamkeit. Der vom anderen Ende der Welt Druck auf sie ausübt und versucht, ihr Leben zu beeinflussen. Der sie manipuliert und belügt. Am 25. Juni 2013, also knapp zwei Jahre nach dem ersten Kontakt, stellt sie ihre Erlebnisse online und erlebt eine große Überraschung: Sie bekommt Zuschriften über Zuschriften von Frauen, die ganz Ähnliches erlebt haben.

Erstaunlich an dieser Art von Betrug ist, dass er nicht geahndet wird. Solange kein materieller oder physischer Schaden vorliegt, gibt es keine Möglichkeit, einen Realfake anzuzeigen. Die psychischen Konsequenzen, unter denen die Betroffenen leiden, haben für die Polizei keine Relevanz. Für die Opfer allerdings sehr wohl. Als Victoria merkte, wie viele Menschen fassungslos von ihrem Schicksal berichteten, richtete sie eine eigene Website ein, Realfakes.net, auf der sie "Erste Hilfe" anbietet. "Das ganze Thema fasziniert mich. Und ich habe gemerkt, dass es keine Selbsthilfegruppen gibt und Psychologen nichts davon wissen, die geben immer nur dem Opfer die Schuld. 'Sie sind emotional so bedürftig', heißt es dann. Aber so einfach ist das nicht mehr, die Offline- und die Online-Welt verschmelzen heutzutage total." Victoria gibt Tipps, wie man sich schützt, wie man recherchiert, um einen möglichen Betrüger zu enttarnen, und leistet Seelsorge. Manchmal bis zwei Uhr nachts. In ihrer Freizeit.

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