Eigentlich wäre ich jetzt irgendwo in der Welt unterwegs, würde in Norwegen nach Muscheln und Krebsen tauchen oder Kaffee in Äthiopien ernten - immer auf der Suche nach neuen Geschichten für meine Food-Dokus. Dafür habe ich allein in den letzten drei Jahren mehr als 300.000 Kilometer zurückgelegt. Aber durch Corona kam alles anders. Inzwischen zieht es mich gar nicht mehr so in die Ferne.
Ich berichte jetzt lieber von meinen kulinarischen Reisen ohne Flughafen, ohne Zoll-Anmeldungen und ohne Zeitverschiebung. Eben über die Reisen, für die ich nicht ans andere Ende der Welt muss, sondern eigentlich nur vor die Haustür. Und davon, wie ich mein Herz an die Wildpflanzen verloren habe.
Grüne Mission
Ich gehe gern spazieren. Über Friedhöfe, Wälder, Feldwege oder einfach durch die Stadt. Kein Ziel, kein Auftrag, einfach nur Ruhe. Als es mir durch die eingeführten Corona-Beschränkungen dann irgendwann doch etwas zu ruhig wurde, musste eine neue Mission her. Den nötigen Impuls bekam ich durch meine Frau. Sie hatte sich zum Frühlingsbeginn mit der Erstellung einer natürlichen Haus-Apotheke aus heimischen Kräutern beschäftigt.
Dadurch war auch mir bewusst geworden, dass ich jahrelang an wertvollen Pflanzen einfach vorbeigegangen bin, deren Namen und Bedeutung ich gar nicht auf dem Schirm hatte. Okay, ich konnte eine Brennnessel von Löwenzahn und Gänseblümchen unterscheiden, aber das war's dann auch schon. Das sollte sich nun ändern. PAID STERN 2020_02 Kolumne Assmann Wer Feinde braucht, um sich zu definieren, ist gefährlich 7.30 Uhr
Auf der Suche nach dem Ur-Geschmack
Ich machte mich also auf in eine Welt, die sich zwar nie vor mir versteckt hatte, die mir aber trotzdem bislang verborgen geblieben war - die Welt der essbaren Wildpflanzen. War ich doch längst gelangweilt von industriellem Hybrid-Gemüse, herausgezüchteten Bitterstoffen und dem ewig gleichen Kräuter-Angebot. Mir fehlte die Überraschung, eine Art Ur-Geschmack mit Wumms und Piff, wenn ihr versteht, was ich meine. Dass die Lösung so nah war, sie mir eigentlich direkt zu Füßen wuchs, war mir nicht bewusst. Da draußen wartet eine wahnsinnige Ressource, die für jeden zu haben ist, keine Plastikverpackungen braucht, nicht kilometerweit durchs Land gekarrt werden muss und dazu auch noch eine neue Geschmacks-Dimension in die Küche bringt.
Bewaffnet mit einer guten Pflanzen-App und einer Wildpflanzen- Lektüre habe ich meine ersten Erfahrungen - oder besser gesagt - Kräuter gesammelt. Da ich in den Hamburger Vierlanden wohne, habe ich es nicht weit und bin in wenigen Minuten am See, im Wald oder stehe mitten auf einer wilden Wiese. Mein Lieblingsweg ist eine alte Bahnstrecke. Da wachsen die tollsten Sachen. Aktuell sammle ich Pflaumen, Hagebutten, Schlehen, Brombeeren und Pilze. Im Frühjahr schossen der wilde Schlangen-Lauch, Knoblauchsrauke und die bittere Schafgarbe aus dem Boden. Das alles wandert direkt in meine Küche und bereichert nicht nur das Geschmackserlebnis, sondern auch mein Wohlbefinden.
Grüne Power fürs Immunsystem
Bitterstoffe zum Beispiel machen gar nicht lustig, sondern fördern unsere Gesundheit. Sie bringen unsere Verdauungsdrüsen auf Hochtouren und halten somit unseren Darm gesund. Chlorophyll unterstützt die Blutbildung und gerade die vielfach enthaltenen sekundären Pflanzenstoffe sind seit Jahrhunderten Teil der natürlichen Heilmedizin. Wenn diese Power Platz in unseren Küchenalltag findet und auch noch lecker ist, steht unser Immunsystem auf der Pole-Postion.
Die Brennnessel eignet sich perfekt für den Anfang. Sie wächst überall wie Unkraut, jeder erkennt sie und in Sachen Nährwerten ist die Brennnessel ein echter Super-Held. In ihr stecken mehr Vitamin C als in jeder Zitrusfrucht und mehr Proteine, Eisen, Fettsäuren und Mineralien als in so manchen anderen gesunden Lebensmitteln. Frische Blätter eignen sich für Pestos und Smoothies, getrocknete Blätter für einen Tee-Aufguss und die gerösteten Samen pimpen jeden Nachtisch oder das morgendliche Müsli.

Essbare Wildpflanzen als Geschmacks-Upgrade
Meine Gerichte müssen vor allem Spaß machen. Ich koche frei von Dogmen und nutze gerne meine Erfahrungen aus vergangenen Reisen. Da kombiniere ich koreanisches Kimchi mit der saftigen Strandsode von der Nordsee, fallen mir lustige Gerichte wie "Hirsch trifft Giersch" ein, oder ich mach meine eigenn Knusper-Schokolade mit gerösteten Brennnessel-Samen. Für mich ist das Kochen mit essbaren Wildpflanzen ein gesundes Geschmacks-Upgrade. Und es ist überall erhältlich und zwar umsonst!
Ich weiß noch, wie ich das erste Mal unter einem Lindenbaum stand und nicht mehr aufhören konnte, von den jungen Blättern zu naschen, oder wie sehr mich der Geschmack der strahlenlosen Kamille umgehauen hat. Dieses unscheinbares Pflänzchen, mit dem Aroma von Banane und Ananas. Diese und viele andere Entdeckungen haben dazu geführt, dass sich mein Blick für die eigene Region geschärft hat.
Inzwischen schaue ich mit anderen Augen auf das heimische Grün. Ich erfreue mich jetzt an frisch gemähten Wegesrändern, da ich weiß, das bald junger und leckerer Giersch nachwächst, sammle Lindenblüten, um sie zu trocknen oder gehe vor dem Abendessen noch kurz vor die Tür, um eine kleine Portion Gundermann oder Knoblauchsrauke zu pflücken. Ich habe geheime Plätze für wilden Thymian, weiß, wo und wann der Bärlauch wächst und das jeder die Brennnessel in sein Ernährungsprogramm einbeziehen sollte.

Hungrig nach mehr
Ich bin mittlerweile so hungrig auf Wissen nach wilden Pflanzen, dass ich selbst im Urlaub nicht still sitzen kann. Als wir im Juli mit dem Camper durch Dänemark rollten, mussten wir an jeder Düne und jeder bunten Wiese anhalten, um neue Pflanzen zu bestimmen und um alles Essbare zu verarbeiten. Dänemark eignet sich bestens für so eine Wildpflanzen-Tour, da auf kleinstem Raum unterschiedlichste Botanik zu finden ist.
Die wilde und raue Nordsee mit seinen langen und nicht enden wollenden Sandstränden und Dünen hat uns mit blühendem Sand-Thymian bereichert. Im Wattenmeer gab es saftig und knackigen Queller und die Salzmiere. Die Wälder im Landesinneren waren voller Pfifferlinge, der Limfjord ist bekannt für seine wilden Austern und an der Ostsee wurden wir von Meer-Kohl und Strand-Senf empfangen.
Jetzt bin ich doch wieder ins Reise-Thema abgedriftet, aber so ist das nun mal als Reise-Junkie und Wildpflanzen machen ja auch vor keiner Grenze halt. Also Augen auf, wo auch immer ihr euch befindet. Es lohnt sich!
Mehr über Olaf Deharde und seine Arbeiten finden Sie auf Sie finden ihn auf seiner Instagram-Seite und seiner Seite über "Wildes Fressen".