Das Abitur in Nordrhein-Westfalen ist im Chaos gestartet: Am Dienstag hatte das Herunterladen der Prüfungsaufgaben für den Folgetag nur bei jeder dritten Schule von insgesamt 900 geklappt. Wegen der Technikpanne mussten die Prüfungen für etwa 30.000 Schüler und Schülerinnen in den Fächern Biologie, Chemie, Ernährungslehre, Informatik, Physik und Technik verschoben werden. Und als Nachholtermin ist nun ausgerechnet dieser Freitag auserkoren worden. Heute findet das muslimische Fest des Fastenbrechens Eid-al-Fitr statt. Das Zuckerfest ist einer der höchsten Feiertage für Muslime. Und es betrifft viele Schüler und Schülerinnen: Denn in NRW leben etwa 1,5 Millionen Muslime.
Und nebenbei stehen seit Freitagmorgen wieder weite Teile Deutschlands still – wegen eines bundesweiten Bahnstreiks. Der Nahverkehr der Deutschen Bahn falle am Vormittag weitgehend aus, wie es auf der Homepage heißt. Die Bahn empfielt Reisen auf kommende Woche zu verschieben. Nur: Das Abitur lässt sich eben nicht (nochmal) verschieben.
Was passiert also, wenn Schüler zu spät zu den Abiprüfungen kommen? Und was bedeutet die Abiturpanne für muslimische Schüler? Der stern hat bei Bildungsanwalt Christian Birnbaum aus Siegburg in Nordrhein-Westfalen nachgefragt. Er ist auf Schul- und Hochschulrecht spezialisiert.
Was passiert, wenn Schüler aufgrund des Streiks zu spät zur Abitur-Prüfung kommen?
Die Frage sei nicht "furchtbar komplex", sagt Christian Birnbaum. "Denn das ist kein wilder Streik, sondern ein angekündigter. Ich weiß, dass gestreikt wird, also muss ich mich darauf einstellen und organisieren, dass ich rechtzeitig da bin.” Kommt ein Schüler oder eine Schülerin trotzdem zu spät, könne man weitere Fragen diskutieren:
Darf der Schüler die Prüfung überhaupt noch mitschreiben oder werden die anderen Schüler dadurch gestört?
Dazu sagt der Bildungsanwalt ganz klar "Ja". "Ich sehe keine Möglichkeit, Schüler, die zu spät kommen, von der Prüfung auszuschließen.” Denn wenn man die Möglichkeit habe, die Klausur eine Stunde früher abzugeben, könne man auch eine Stunde später damit anfangen.
Viel relevanter ist die Frage: Ist dem Schüler im Falle einer Verspätung auch eine Stunde Verlängerung zu gewähren?
Das wiederum sei nicht so einfach, sagt Birnbaum: "Einen Rechtsanspruch auf eine Verlängerung hat man nicht." Denn man wisse, dass der Streik für diesen Tag angekündigt ist. "Dann muss man eben eine Stunde früher losfahren oder die Nacht vorher bei einem Freund vor Ort übernachten." Die Verlängerung hat also mit Kulanz zu tun. Erlauben die Verantwortlichen, dem verspäteten Schüler, die Prüfung etwas länger zu schreiben, stehe dem nichts im Weg.
Aus rechtlicher Sicht bekommt der Schüler in diesem Moment aber etwas, worauf er keinen Anspruch hat. Was also, wenn sich Mitschüler Alex beklagt, dass Basti eine Stunde länger schreiben durfte? "Aus meiner Sicht ist das nicht haltbar", sagt Christian Birnbaum "Denn wo ist die Beeinträchtigung für Alex, wenn Basti eine Stunde länger schreiben darf?” Diese so genannte "rechtlose Großzügigkeit”, die dem verspäteten Schüler zugute kommt, sei aus seine Sicht völlig in Ordnung.
"Den Termin auf Freitag zu legen, musste sein"
Zu kurzfristig war die Terminänderung von Mittwoch auf Freitag nach Auffassung von Birnbaum nicht: "Ich würde sagen, jeder Mensch kann sich innerhalb von zwei Tagen darauf einstellen unter widrigen Bedingungen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu erscheinen.” Er könne die Entscheidung, den Nachholtermin trotz Zuckerfest und Streik auf diesen Freitag zu schieben, nachvollziehen: "Wenn die Prüfung an einem Mittwoch stattfinden soll, werden diese Klausuren aus guten Gründen erst am Dienstagnachmittag freigegeben. Je mehr Tage der Klausurtext nun freigegeben ist, desto größer ist die Gefahr, dass die Prüfungsaufgaben Verbreitung finden." Der Freitag sei der nächstmögliche Termin für die Prüfung gewesen und musste sein.

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.
Auf Twitter hat das Schulministerium inzwischen bekanntgegeben, dass sicherheitshalber trotzdem neue Prüfungsaufgaben eingesetzt werden. "Es liegen keinerlei Hinweise vor, dass aus dem Download für den ursprünglichen Prüfungstermin am Dienstag Aufgaben geleakt worden sind", heißt es dort. Dennoch solle jedes Restrisiko ausgeschlossen werden.

"Diese Verschiebung ist natürlich ärgerlich", sagt Christian Birnbaum. Am Ende aber passierten solche Sachen nun mal. Dass den Schülern dadurch ein Schaden entsteht, stellt der Bildungsanwalt in Frage. "Wenn man am Mittwoch vorbereitet ist, ist man es am Freitag auch." Er könne sich nicht vorstellen, dass das irgendein Verwaltungsrichter anders sieht.
Wegen des Zuckerfests die Abiprüfung verschieben: Ist das fair?
Viel bedenklicher findet Christian Birnbaum die Entscheidung von NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU), dass Schüler, die wegen des Zuckerfestes nicht an den Prüfungen teilnehmen möchten, nach vorheriger Abstimmung mit der Schulleitung die Klausur am 9. Mai nachschreiben können: "Es gibt viele Religionsgemeinschaften mit religiösen Festen, die aber keine weltlichen Feiertage sind. Was ein Feiertag ist, bestimmt der Staat. Das ist die Schwelle. Keiner muss am Ostermontag eine Klausur schreiben und auch keiner am 1. Mai. Das Zuckerfest aber ist kein staatlicher Feiertag und deshalb gibt es aus meiner Sicht auch keinen Rechtsanspruch, an diesem Tag keine Klausur schreiben zu müssen.”
Problematisch sei das vor allem deshalb, weil es hier nicht um das einzelne Kind gehe, das vielleicht eine Stunde zu spät zur Prüfung kommt. "Hier haben wir es mit einer signifikanten Gruppe zu tun.” Die Prüflinge werden auseinandergerissen und ein erheblicher Teil von ihnen habe drei Wochen mehr Vorbereitungszeit. "Das könnte sogar den Leistungsmaßstab verfälschen. Denn die Arbeiten werden alle zusammen korrigiert. Ein Teil der Gruppe hatte die Möglichkeit, eine bessere Leistung zu bringen. Und dadurch wird der Bewertungsmaßstab anders." Das klinge vielleicht konstruiert, scheint aber rechtlich nicht ausgeschlossen", sagt der Experte.
Ein weiteres Problem: Wenn ein muslimischer Schüler entscheidet, "Mir ist das Zuckerfest völlig egal, ich möchte am Freitag mitschreiben”, darf er das auch. "Denn man kann ja diesen Schülern nicht verbieten, heute die Prüfung zu schreiben." In so einem Fall hätten diese Schüler aber eine Wahlfreiheit über den Prüfungstermin, den die anderen nicht haben. Dieses Vorgehen bedeute im Alltag, dass jedes Mitglied einer anerkannten Religionsgemeinschaft an seinen religiösen Feiertagen ein Wahlrecht hat, ob es eine Leistung erbringt oder nicht. Überspitzt gesagt, müsste man laut Birnbaum dann auch den Schülern, die wegen des Streiks in Bredouille kommen, gewähren, dass sie am 9.Mai nachschreiben.
Das Vorgehen sei deshalb nicht unproblematisch. Trotzdem sagt der Bildungsanwalt: "Am Ende glaube ich nicht, dass das gegen die Wand fährt und ich glaube auch nicht, dass es Klagen dagegen geben wird, die Erfolg haben."