Fühlen Sie sich als Christ in Deutschland bedroht?
Nein, ich fühle mich persönlich und auch in meiner Kirche nicht bedroht. Aber ich fühle natürlich große Solidarität mit den christlichen Kirchen. Im Augenblick mit den Kopten. Es gab ja in den vergangenen Monaten ständig Anschlagsversuche gegen christliche Gruppen wie zum Beispiel in der Türkei. Das hat nun einen Punkt erreicht, an dem es auch in Europa stärker wahrgenommen werden muss. Da muss Druck gemacht und Solidarität gezeigt werden.
Halten Sie eine Bedrohung der Christen in Deutschland überhaupt für möglich?
Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Absolut nicht. Ich kann mir bei den verworrenen Gedanken von Al Qaida durchaus vorstellen, dass sie den Westen gezielt in seiner christlichen Tradition angreifen wollen. Aber diese Angst habe ich auch, wenn ich in Berlin über einen Weihnachtsmarkt gehe oder in Hamburg durch den großen Bahnhof. Es gibt einfach diese Grundbedrohung in den großen westlichen Gesellschaften. Das haben wir zuletzt ganz real in Stockholm gesehen. Die Quelle des Ganzen ist ein politischer Islam, der uns seit vielen Jahren als Islamismus bedroht. Ich glaube, dass christliche Vertreter wie die Kopten in den Fokus geraten sind, weil der politische Islam meint, den Westen mit solchen Angriffen besonders zu treffen.
Was meinen Sie mit "der politische Islam"?
Der ist eigentlich mehr ein kultursoziologisches Phänomen als ein theologisches. Wenn ich mich mit einem muslimischen Theologen unterhalte, sind wir natürlich beide gegen Gewalt. Unser gemeinsames Ziel ist das friedliche Zusammenleben der Menschen. Der politische Islam wurde ausgelöst durch eine geistliche Erstarrung des muslimisch-arabischen Kulturraums. In den UN-Berichten kann man nachlesen, dass der gesamte arabische Raum, was Innovation, Bildung, Ökonomie angeht, seit Jahrzehnten rückständig geblieben ist. Daraus resultiert eine enorme Frustration. Und die Religion wird benutzt, um dafür ein Ventil zu schaffen. Der politische Islam ist nichts anderes als die Droge der Marginalisierten. Derer, die keine Chancen haben, weil die Bildungssysteme schlecht sind, Regierungen versagt und Frauen keine Rechte haben...
Aber warum distanziert sich dann der religiöse Islam nicht entschieden vom politischen?
Das bekümmert mich manchmal auch. Es gibt natürlich Distanzierungen, laut und stark, auch in Deutschland. Aber in den arabischen Ländern könnte sie lauter ausfallen. Es gibt sie aber auch dort.
Haben Sie jemals von Gläubigen gehört, dass sie sich als Christen bedroht fühlen?
Ich bin viel durch die arabischen Länder gereist. Ich habe auch die Kopten in Ägypten besucht. Wenn man plötzlich als Christ in der Minderheit ist, fühlt man sich schon ein bisschen komisch. Und ich kann nachvollziehen, dass diese Minderheiten sich dort bedroht fühlen. Hier in Deutschland habe ich das noch nicht erlebt.
Auch noch nichts gehört aus anderen Gemeinden?
Nein.
Diese Frustrierten der Marginalisierung, auf die der politische Islamismus zielt, von denen Sie vorhin sprachen, gibt es auch in Deutschland.
Natürlich gibt es die auch hier. Vor allem junge, muslimische Männer, die hier keine Sozialisation hinbekommen haben, die nicht in unserer Kultur angekommen sind. Und die den politischen Islam genauso als Droge nehmen, wie es auch im Rest der Welt passiert: um sich selbst stark zu machen.
Und was kann man dagegen tun?
Die geistliche Erstarrung muss sich lösen, so wie sie sich auch in der christlichen Kirche einst gelöst hat. Durch die Aufklärung und die Reformation.

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Jan Dieckmann
www.tacheles.tv Jan Dieckmann ist TV-Pastor und Moderator der evangelischen Talkshow "Tacheles" auf Phoenix, die in der aktuellen Staffel den Dialog zwischen Christen und Muslimen zum Thema hat. Er war sieben Jahre lang Gemeindepastor in Garbsen, wurde Pressesprecher des Kirchenkreises, schrieb Morgenandachten für den NDR und gründete den Offenen Kanal Hannover. Von 1998 an arbeitete Jan Dieckmann in der Redaktion Hannover der Evangelischen Radio- und Fernsehkirche im NDR. Seit April 2001 ist er Hörfunk- und Fernsehbeauftragter der norddeutschen evangelischen Kirchen beim NDR und Leiter der Evangelischen Radiokirche in Hamburg