"Wie können sie uns an einem solchen Tag belästigen?", herrscht der junge Deutschtürke Kommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) an. "Haben Sie keinen Respekt? Meine Familie ist in Trauer!" Kurz zuvor wurde der Sarg mit dem Schwager des jungen Mannes in ein Flugzeug verfrachtet. Der Schwager, ein Mordopfer, soll in der Türkei beerdigt werden. Binnen 48 Stunden nach seinem Tod, so wie es unter Muslimen Brauch ist.
Szenen wie diese waren es, die der ARD und selbst Politikern bleischwer im Magen lagen. SPD-Chef Kurt Beck und die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer (CDU) empfahlen, diesen "Tatort" mit dem Titel "Schatten der Angst" nicht wie geplant am kommenden Sonntag auszustrahlen. Peter Boudgoust, Intendant des Südwestrundfunks, der den Film verantwortet, erwiderte: "Wir sind uns unserer eigenen Verantwortung bewusst und brauchen in Sachen Pietät keine Nachhilfe von der Politik." Gleichwohl entschieden Boudgoust und die ARD-Verantwortlichen, den "Tatort" zu verschieben - aus Rücksicht auf die trauernde türkische Gemeinde in Ludwigshafen, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Vergangene Woche sind dort neun Türken bei einem Hausbrand umgekommen. Die Ursache der Katastrophe ist noch unklar. Es könnte ein Unfall gewesen sein. Oder ein grausamer fremdenfeindlicher Anschlag.
Beck als Programmdirektor
Der "Tatort", der stern.de vorab zur Sichtung vorlag, hat mit dem realen Hausbrand naturgemäß nichts zu tun. Er erzählt die fiktive Geschichte eines Mords an einem türkischen Imbiss-Besitzer, dessen Familie aus falschem Ehrgefühl die Ermittlungen blockiert. Lena Odenthal ist gezwungen, sich an der Kultur dieser Familie abzuarbeiten, an dem über allen thronenden Vater, dem kriminellen Sohn, der unterdrückten Tochter, den Begriffen "Respekt", "Ehre" und "Tradition". Die feinen Differenzierungen des Drehbuchs verhindern jedoch, dass die Familie zum Abziehbild der Parallelgesellschaft verkommt. Im Gegenteil: Die Filmfiguren positionieren sich individuell - und zum Teil überraschend - zur Kultur der türkischen Einwanderer. Zweifellos ist dieser Tatort ein ebenso kritischer wie geglückter Zwischenruf zum Thema.
Somit existieren nur drei Parallelen zwischen Film und realer Brandkatastrophe: der Schauplatz Ludwigshafen, die Betroffenheit von Türken und die Trauer. Rechtfertigt das den Versuch von Beck und Böhmer, direkt in das Programm der ARD einzugreifen? Ist die Entscheidung der ARD-Verantwortlichen hinreichend begründet? Worum geht es eigentlich: Pietät? Hysterie? Um die schlotternde Angst, hier lebende Türken könnten protestieren? Wäre es falsch, ihnen zu unterstellen, dass sie zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können?
"Marke Tatort nicht beschädigen"
Die ARD tut sich schwer mit Filmen, die Minderheiten kritisch beäugen. Im Sommer 2006 verschob der Sender Züli Aldags "Wut" über eine türkische Jugendgang ins Nachtprogramm - er sei zu gewalttätig, hieß es. Kurz vor Weihnachten 2007 lief der Tatort "Wem Ehre gebührt", der einen Inzest-Fall in der türkischstämmigen Glaubensgemeinschaft der Aleviten schildert: Prompt marschierten wütende Aleviten vor dem ARD-Hauptstadtstudio auf. "Das macht vorsichtig", sagt ein ARD-Hierarch zu stern.de. "Man will keine Schlagzeilen in der 'Bild' lesen und man will auch nicht die Marke Tatort beschädigen."
Einer der wichtigsten Entscheider in diesem Fall ist Thomas Baumann, ARD-Chefredakteur, der momentan den im Urlaub befindlichen Programmdirektor Günter Struve vertritt. Baumann legt im Gespräch mit stern.de großen Wert auf die Feststellung, dass sich die ARD unabhängig von Beck und Böhmer zur Programmänderung entschlossen habe. Und er lobt diesen Tatort: "Das ist ein guter Film - mit einem gesellschaftlich relevanten Thema." Aber zum Beispiel die Sargszene … könnte die Gefühle der türkischen Gemeinde in Ludwigshafen verletzen. "Ich glaube, dass es zur Demokratie gehört, dass wir besonders auf Randgruppen Rücksicht nehmen", sagt Baumann. Die Gefahr, dass diese Position die redaktionellen Spielräume der ARD drastisch verkleinern könnte - an Randgruppen besteht schließlich kein Mangel - hält Baumann für "nicht ausgeschlossen". Man müsse von Fall zu Fall entscheiden. Hier sei ein unglücklicher zeitlicher Zusammenhang zwischen Film und Unglück gegeben, der Pietät erfordere. Im Übrigen sei der Film nur verschoben - nicht gestrichen.
Aufgewühlte Situation in Ludwigshafen
Viele Kommentatoren der Tagespresse halten die Verschiebung des ARD-Tatorts für richtig, weil sie die emotional aufgewühlte Situation in Ludwigshafen nicht weiter anheizt - das Misstrauen von Türken ist dort schon in Gewalt gegen einen Feuerwehrmann umgeschlagen. Gegenteilige Meinungen sind indes auch zu hören. Die türkischstämmige SPD- Islambeauftragte Lale Akgün sagte der "Neuen Presse", die Programmänderung sei übertrieben. "Wir werden kein Problem weniger haben, wenn wir ein Problem unter den Tisch kehren."