Jagoda Marinić Jacinda Ardern zeigt bei ihrem Rücktritt Gefühle – und zwar alle gleichzeitig

An die Spitze wollen alle, aber sie in Würde wieder zu räumen, das schaffen nur wenige Politiker. Jacinda Ardern ist beides gelungen, findet Jagoda Marinić.

Bis heute gibt es nur zwei Frauen, die als Regierungschefin ein Kind zur Welt brachten: Pakistans Premierministerin Benazir Bhutto und Jacinda Ardern aus Neuseeland. Bhutto musste ihre Schwangerschaft noch geheim halten und nahm kurz nach der Geburt im Januar 1990 wieder ihre Arbeit auf. Ardern konnte 2018 hingegen schon selbstbewusst Journalisten maßregeln, die sich erkundigt hatten, wie sie denn regieren wolle mit Kind. Das sei eine unangemessene Frage, die man einem Mann nie stellen würde, antwortete sie – und nahm selbstverständlich sechs Woche Elternzeit.

Nicht allein wegen der Politik, die Jacinda Ardern machte, stand sie als junge Regierungschefin für das Gegenmodell zu den autoritären Big Men wie Donald Trump, der ebenfalls 2017 an die Macht kam.  Jetzt hat sie angekündigt, bald zurückzutreten, wobei sie ihren Rücktritt nicht mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf begründet hat, sondern mit der Tatsache, dass ihr Tank nach zwei Amtszeiten voller Krisen leer sei. 

Bei der Bekanntgabe des Rücktritts rang sie mit den Tränen. Ihr fehle die Kraft, noch einmal alles zu geben. Es sei ein Privileg gewesen, dieses Amt auszuüben.

Empathisch und entschieden, optimistisch und fokussiert

Viele Medien berichteten, sie habe geweint, dabei hat sie offenbar bloß mit unterschiedlichen Gefühlen gerungen und sie alle gleichzeitig gezeigt. Genau darin besteht ihr Talent: Sie steht für die Gleichzeitigkeit vermeintlich widersprüchlicher Dinge; man nennt es auch Ambivalenz. Sie selbst brachte ihre Art, ein Land zu führen, so auf den Punkt: empathisch und entschieden, sensibel und führungsstark. Vor allem aber könne man, auch wenn man ganz oben steht, wissen, wann es an der Zeit ist, die Macht abzugeben.

Gerade mit diesen letzten Worten zeigt Jacinda Ardern, wie sehr sich von den mächtigen Männern unterscheidet, die derzeit die Weltpolitik bestimmen: Trump versucht um jeden Preis, noch einmal gewählt zu werden, Joe Biden möchte jenseits der 80 noch eine zweite Periode im Amt bleiben, und wie viel Schaden wäre der Welt erspart geblieben, wenn ein Vladimir Putin in seinem Leben von etwas wie Grenzen – inneren wie äußeren – gehört hätte.

Jacinda Ardern verkörpert das, was viele Feministinnen „weibliche Führung“ nenne. Natürlich darf eine Frau nach oben kommen und alles genauso machen wie Patriarchen vor ihr. Doch die eigentliche Utopie ist: Frauen kommen nach oben und verändern die Gesellschaft von dort aus tatsächlich Stück für Stück zum Besseren. Sie machen das System gerechter, statt die Menschen auszubeuten oder weiterhin zu dominieren.

Jacinda Ardern verkörperte einen Neunanfang

Ardern hat die Glasdecke der Politik nicht durchbrochen, um dann einfach noch härter zu sein als Männer, wie etwa Margret Thatcher das einst tat. Sie verkörperte einen Neuanfang. Für viele Frauen stand sie für die Vereinbarkeit von Schwangerschaft, Muttersein und Spitzenposition. Ihre Empathie im Umgang mit den Attentats-Opfern von Christchurch berührte viele Menschen weltweit. Ihre Corona-Politik hingegen war umstritten. Mit Zero Covid wollte sie die Bevölkerung schützen, brachte aber viele im Land gegen sich auf. 

Sie habe erstmals wieder gut geschlafen, sagte sie am Tag nach ihrem Rücktritt. Viele zollen ihr Respekt: In Würde zu gehen, das können die wenigsten Machtmenschen. Sie erinnert daran, dass Politiker Menschen sind und Grenzen haben.

Doch ich frage mich, ob am Ende nur jene, die den Zweifel am eigenen Handeln kennen, derart an ihre Grenzen kommen, weil das ewige Austarieren der Wirklichkeit eben an den Kräften zehrt. Politiker, die vor Machthunger kein Ende sehen, scheinen aus einem dunklen Tank unerschöpfliche Energie zu zapfen; sonst wäre Putin längst umgefallen. Ardern sagte, sie sei "optimistisch, aber fokussiert". Damit richte ich meinen Blick ebenfalls optimistisch auf Sanna Marin in Finnland und hoffe, diese beide Frauen motivieren noch viele andere, sich Macht zuzutrauen. Wenn auch nur so lange, wie es gut geht. Vielleicht macht dieses Bewusstsein über die eigenen Grenzen weibliche Führung aus: kurz, aber richtig.

stern-Autorin Jagoda Marinic schreibt Bücher („Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) und ist Host des Podcasts „Freiheit Deluxe“. Auf Twitter und Instragram ist sie zu finden unter @jagodamarinic

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