Wie oft haben wir schon gehört, es sei fünf vor zwölf? Oft. So sehr "fünf vor zwölf" wie jetzt war es aber noch nie. Nicht nur Jean-Michel Jarre, Musiker, Künstler und Visionär, macht sich verstärkt Gedanken über die Zukunft. Der 75-Jährige ist einer der Top-Acts auf dem diesjährigen STARMUS-Festival in Bratislava. Musiker wie The Offspring und Queen-Gitarrist und Astrophysiker Sir Brian May werden vor Ort sein, mit anderen Prominenten aus Wissenschaft, Kunst und Musik. Astronautinnen, Kosmonauten, NobelpreisträgerInnen, Wissenschaftler und Forscherinnen zieht es vom 12. bis 17. Mai in die Slowakei.
Jean-Michel Jarre: Ein Musiker und Visionär auf dem Starmus-Festival
Ziel der Veranstaltung ist es, den Entdeckergeist der nächsten Generation zu befeuern, die Jugend zu inspirieren und für die brennenden Fragen unserer Zeit – Klimakrise, Umweltverschmutzung, Frieden und Gesellschaft – zu sensibilisieren. Über die siebte Ausgabe des Festivals, das sich mit der Existenz und Zukunft unseres Planeten befasst, spricht Jean-Michel Jarre mit ntv.de.
Jean-Michel, vor sechs Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen, wir waren in Masada, in der Negev-Wüste, Israel. Unvorstellbar, dass das momentan nicht möglich ist, oder?
Das ist allerdings unfassbar. Der einzige Trost ist, dass es eines Tages – hoffentlich – wieder möglich sein wird.
Was treibt dich immer wieder an die fantastischsten Orte dieser Welt – du trittst nicht einfach nur in einer Arena oder einer Halle auf, es muss schon Versailles sein oder die eben genannte Show am Toten Meer. Oder, wie jetzt, in Bratislava, vor der UFO-Brücke …
(lacht) Naja, ich bin schon auch in Stadien oder Hallen anzutreffen, ich habe ja vor Kurzem erst meine Welttournee beendet. Aber gelegentlich werde ich gebeten, sehr spezielle Projekte zu übernehmen. Und das war natürlich der Fall in Masada. Und jetzt in Bratislava für das Starmus-Festival.
In Masada ging es um die Aufmerksamkeit für das bereits sehr ausgetrocknete Tote Meer …
… genau. Für einen Künstler gehört es einfach dazu, zu helfen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Wenn es möglich ist, ein Spotlight auf ein Thema zu richten, das wirklich wichtig ist, dann mache ich das. Im Fall von Starmus und Bratislava war es so, dass ich die Gründungsmitglieder bereits seit 15 Jahren kenne, manche noch länger. Ich saß damals in meiner Garderobe in der Royal Albert Hall, das Konzert war beendet, da klopfte es an der Tür und man sagte mir, zwei Astrophysiker würden mich sprechen wollen. Der eine war Brian May und der andere war Garik Israelian, den ich erst für ein neues Mitglied von Queen gehalten hatte (lacht). Er ist aber einer der Co-Gründer von Starmus.
Die Initiative ging auch vom legendären Stephen Hawking aus …
Genau, die Idee war, alle zwei Jahre Astrophysiker, Wissenschaftler, Künstler, Unternehmer zusammenzubringen, um sich Gedanken darüber zu machen, wie wir die Zukunft unserer Welt gestalten wollen. Und zwar abseits aller politischen Formate. Ich hielt das für eine sehr gute Idee und fing an zu überlegen, mit wem wir uns noch zusammentun können. Dass ich 2017 eine Stephen-Hawking-Medaille erhielt, hat mich umso mehr angespornt, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich mich einbringen kann.
Warum Bratislava?
Bratislava bietet einfach sehr viel: Erst einmal einen Sponsor namens ESET, der einer der größten Namen beim Thema Cyber-Security ist. Wir treten vor der fantastischen UFO-Brücke auf, die über die Donau verläuft. Das ist eine beeindruckende Kulisse, um die Aufmerksamkeit auf dieses Event zu lenken, an denen so verschiedene Menschen aufeinandertreffen werden, miteinander diskutieren und lernen können. Wir hatten auch das Gefühl, dass diese Form von Event so nicht mehr stattfinden kann in Berlin, New York, Paris oder London. Aus Sicherheitsgründen. Aber mal abgesehen davon, liegt die Slowakei – liegt Bratislava – tatsächlich im Herzen von Europa. Warum also nicht von dort ein Signal in die Welt hinaussenden?
Das Motto heißt: "Bridge from the Future". Warum müssen die Menschen, vor allem die Jugend, momentan ganz besonders inspiriert werden, einen Blick in die Zukunft zu wagen?
Die Menschen denken, fast so, als wäre es in unserer DNA verankert, dass früher alles besser war. Und morgen wird alles schlechter. Aber das stimmt ja gar nicht (lacht). Wenn das wahr wäre, dann würden wir beide hier nicht zusammensitzen und miteinander reden. Wir sollten keine Angst haben vor Innovation, vor der Zukunft. Ich liebe dieses Bild "Bridge from the Future", also Brücke aus der Zukunft, sehr, weil so wird, dass die Ideen bereits vorhanden sind. Es ist alles da, es existiert bereits. Was wir allerdings tun müssen, ist, diese Dinge zu entdecken. Wir müssen nur graben, forschen, neugierig sein. Und dann in der Lage sein, diese Entdeckungen ins Jetzt zu transportieren oder zu interpretieren.

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Wir müssten nur wissen, wie und wo …
Ja, es klingt wie ein neues Konzept, aber auch das liegt bereits in uns. Die Zukunft ist weder dystopisch noch beängstigend. Die Zukunft hält alle Antworten für uns bereit – wir müssen sie nur finden.
Die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland ist stabil – das haben wir letztes Mal, als wir uns gesehen haben, so konstatiert. Glaubst du das noch immer? Und sind wir, dir wir immer dachten, zentral und damit auch führend zu sein, gar nicht mehr so wichtig?
Erst einmal denke ich, dass sich nichts daran geändert hat, dass unsere Länder, Deutschland und Frankreich, noch immer sehr eng miteinander verbunden sind. Und Europa bleibt auch Europa. Wir haben eine gewisse "kulturelle Hoheit", die so leicht nicht zu zerstören ist. Die Basis ist vorhanden. Allerdings ist es höchste Zeit, daran zu arbeiten, unsere Zukunft zu gestalten. Nichts bleibt, wie es ist. In Zeiten, in denen sich China und die USA so wenig wohlgesonnen gegenüberstehen, ist es wichtig, in Europa einen kühlen Kopf zu bewahren. Und warum nicht größer denken als bisher? Die Slowakei ist zwar ein kleines Land, aber mittendrin. Es ist ein guter Ort, und ein guter Zeitpunkt, daran zu erinnern, was wir in Europa vorzuweisen haben: Entwickler, Forscher, Wissenschaftler. Wenn du so willst, stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Renaissance – einer Renaissance 3.0, könnte man es vielleicht nennen. Wir haben die Köpfe, die Mittel und den Markt. Und wir sind bei "Jetzt oder nie" angelangt.
Wirklich nie?
Zumindest wäre es besser, wenn wir jetzt sofort handeln, sonst bekommen wir wirklich Probleme. So ein Festival ist ideal dafür, unsere Werte zu verbreiten, Werbung zu machen. Ein jeder hat eine Vorstellung davon, wie wir unsere Zeit auf Erden verbringen wollen. Wenn wir unsere Kräfte bündeln und uns zusammen tun mit Künstlern, Wissenschaftlern und Unternehmern, dann haben wir noch eine Chance. Denn eines ist leider deutlich geworden – unsere Politiker sind nicht mehr in der Lage, viel voranzubringen.
Warum aber sollte ein Weckruf an die Jugend, der nicht aus der Politik kommt, sie nun erreichen?
Weil sich die Jugend von der Politik abgewandt hat. Damit will ich nicht sagen, dass Politiker schlechte Menschen sind. Jeder, der in die Politik geht, ist mit Idealen gestartet. Hat Werte, Ideen, will die Welt verändern. Und wenn man dann eine Weile dabei ist, setzt eine gewisse Frustration ein, denke ich: Man kommt nicht weiter, weil Behörden Vorhaben blockieren, man steckt im Bürokratie-Sumpf fest, Brüssel und die Heimat kooperieren nicht – es gibt so vieles, was nicht funktioniert.
Wir haben momentan gefühlt mehr Problem-Herde auf der Welt als sonst in der jüngeren Vergangenheit …
Ja, Ukraine und Russland, in afrikanischen Staaten ist es vielerorts schwierig, von Israel und Palästina ganz zu schweigen – um nur einige zu nennen. Das alles blockiert und verhindert ein politisches Vorankommen. Deshalb müssen wir neu denken. Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer können das, anders als Politiker – weil sie es gewöhnt sind, immer wieder neue Wege zu gehen, sich etwas auszudenken, etwas zu erfinden oder zu erforschen. Das ist das Beste, was wir im Moment für unsere Jugend machen können – einen Hinweis geben und sie dazu einladen, anders zu denken.
Was ist deine Botschaft an die Studenten, die zum Beispiel in New York oder Los Angeles, aber auch in Paris oder Berlin, jüdische Studenten auf dem Campus jagen, sie gar nicht erst rauflässt, sie vertreiben möchte, sie mit antisemitischen Parolen attackiert? Was ist da schiefgelaufen?
Ich habe nur eine Sache, die ich diesen jungen Leuten sagen möchte – und wie man weiß, war meine Mutter in der Résistance, ich habe das also im Blut: Sie hat mir immer wieder gesagt, dass man niemals die Menschen und die Ideologie vermischen sollte. Der größte Fehler, den nicht nur die jungen Leute gerade begehen, ist, beides zu vermischen. Oder zu verwechseln. Die Deutschen sind nicht per se Nazis, die Russen lieben nicht alle Putin. Und Netanjahu und die Israelis sind auch kein perfektes Match. Es wäre fatal, die politische Linie Netanjahus, über die man unbedingt diskutieren muss, und die jüdische Community in einen Topf zu werfen, das wäre wirklich lächerlich. Es sind Extremisten, die versuchen, Menschen zu manipulieren, und eine Wahrheit kreieren, die es so nicht gibt. Man kann gegen ein System übrigens aufbegehren, wie wir wissen. Wenn wir alles nur noch hinnehmen, dann stehen wir bald an der Pforte eines Genozids.
Zurück zum Starmus-Festival – du hast es bereits angedeutet: Die Antworten sind da, die Lösungen liegen vor uns, wir müssen sie "nur" noch finden. Erläutere bitte etwas genauer das "nur" an der ganzen Sache.
(lacht) Dafür machen wir ja dieses Festival, darum wird es dort gehen! Wir müssen anders denken, neu, abseits der üblichen Wege. Fest steht, dass es so, wie es jetzt läuft, nicht weitergehen kann. Wie können wir das ändern, und wie schaffen wir es, nicht in dieselben Fallen zu tappen wie unsere Vorgänger, oder andere Vordenker? Weil sie zum Beispiel davon abhängig sind, wie die nächsten Wahlen ausgehen, oder darauf achten müssen, wie sie an der Börse performen. Deswegen habe ich das Beispiel der Renaissance – der Wiedergeburt – vorhin auch bemüht: Auf lange Sicht zu planen und wenigstens Mittelstrecke zu denken.
Das klingt ganz nach dem Botschafter der UNESCO, der du seit drei Jahrzehnten bist …
Ja, und zwar mit ganzem Herzen, denn dort gibt es diesen interdisziplinären Mix schon lange: Bildung, Wissenschaft, Kultur – wie bei Starmus. Drei Zutaten, aus denen man die Zukunft bauen kann.
Du bist, seit ich denken kann, ein Visionär, jemand, der gegenüber zukünftigen Technologien aufgeschlossen ist. Wer folgt in deinen Fußstapfen?
Oh, ich denke, da gibt es einige (lacht). Es ist in der DNA eines Künstlers, in Richtung Zukunft zu denken. Ein Beispiel: Täglich werden 100.000 Songs auf der Welt veröffentlicht, doch immer wieder gibt es Überraschungen. Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die besonders hervorstechen, obwohl wir alle doch nur dieselbe Anzahl an Noten zur Verfügung haben.
Und woran liegt das?
Es liegt daran, dass dieser Mensch höchstwahrscheinlich nicht den üblichen Regeln folgt. Diese Person hat seine oder ihre eigenen Regeln. Und das ist genau das, was wir brauchen: Kreativität! Sie führt zu solchen Ausschlägen abseits der üblichen Amplitude. Schon immer und immer wieder. Diese Menschen sind wichtig für uns, denn ihr Vermächtnis ist das, was uns weiterbringt. Wenn man einen Schritt vom regulären Weg abgeht, dann hat man einen vollkommen neuen Blick. Den brauchen wir, immer wieder.
In Bratislava werden einige Nobelpreisträger anwesend sein …
Ja, und genau diese Frauen und Männer sind es, die eine gewisse "Verrücktheit" in sich tragen, die anders sind, schneller. Mit diesen Eigenschaften können sie andere mitreißen und die Welt verändern.
Gibt es Hoffnung? Denn ganz realistisch – du hast vor ein paar Wochen in einem AirCar gesessen, also einem Auto, das auch fliegen kann, und nicht einer der jungen Künstler. Du sagst seit Jahren, du würdest gern auf dem Mond auftreten. Welche jungen KünstlerInnen träumen denn noch visionär?
Es gibt Hoffnung, ja. Aber wir müssen bei der Bildung anfangen, und zwar geschlechtsunabhängig. Und sofort. Es ist traurig, dass der Level unserer Bildung kontinuierlich abnimmt, statt zuzunehmen. Ich vertraue allerdings auf die Fans – die es in den Bereichen der Bildung und der Wirtschaft ebenso gibt wie in der Wissenschaft und Kunst.
Würdest du auch noch zum Mars wollen?
Absolut! Wenn es möglich ist, steige ich sofort ein. Stephen Hawking sagte einmal: "Wir können die Zukunft nur überleben, wenn wir verstehen, dass die Erde unser Ausgangspunkt ist." Und ja, wir sollten weiterhin unsere Erde erforschen, aber das schließt nicht aus, auch den Rest unseres Planetensystems entdecken zu wollen. Realistisch betrachtet werden wir nicht morgen zum Mars reisen können, aber vielleicht schneller, als wir denken.
Wo nimmst du deine nie versiegende Energie her?
Das ist ganz einfach: Ich versuche, an jedes Projekt wie ein absoluter Anfänger ranzugehen. Neugierig zu bleiben, daran zu arbeiten, als würde ich es das erste Mal machen. Mit Respekt und auch einem bisschen Angst, so kann man es ruhig nennen. Die Angst hält einen wach.
Und natürlich muss die Gesundheit mitspielen.
Sicher. Und noch ein Rat an die Jugend: Seid wie ein Schwamm, saugt alles auf! Seid wie ein Dieb! Nehmt alles, was ihr kriegen könnt (lacht), macht was draus! Und vor allem: Habt keine Vorurteile!
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