Joana Osman ist die Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter. Aufgewachsen ist sie in Deutschland. 2012 war sie Mitbegründerin der Friedensbewegung "The Peace Factory", sie setzt sich für Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Auf der Buchmesse stellt sie am 18. Oktober in der 30-Minuten-WG von stern und Penguin Random House ihren Roman "Wo die Geister tanzen" vor. Darin erzählt sie die Geschichte ihrer Familie, die 1948 im Jom-Kippur-Krieg aus Israel vertrieben wurde.
Joana Osma schildert ihre Gedanken zu den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel exklusiv für den stern:
"Ich erfuhr von dem schrecklichen Terrorangriff der Hamas auf Israel aus den Nachrichten. Noch während mein Gehirn damit beschäftigt war, diese Information irgendwie zu verarbeiten, meldete mein Handy Notifications auf fast allen Messenger-Kanälen. Ich habe Freunde in Israel und in den Palästinensergebieten und Verwandte im Libanon. Mein Herz hat Zweigstellen in all diesen Ländern. In Zeiten wie diesen, ist mein Herz schwer wie Blei, denn diese Eskalationsstufe ist anders, als alles Vorhergehende. Brutaler, unbarmherziger, menschenverachtender und endgültiger als jedes Scharmützel, jeder Krieg, jedes Aufflammen des Nahostkonfliktes, das ich bisher erlebt habe.
Bist du okay?
Aber eines ist ganz genau gleich wie immer: Jedes Mal, wenn es dort Krieg, Anschläge oder Angriffe gibt, erwacht meine Bubble zum Leben. Alle Menschen, die ich in Israel, in den Palästinensergebieten, oder in irgendeinem anderen Land des Nahen Ostens kenne, schreiben mir, schreiben auch einander: Ich habe gehört, dass etwas passiert ist – bist du okay? Sind deine Verwandten in Sicherheit? Geht es euch gut?
Ich lebe in einer Filterblase, in der ich fast nur Israelis und Palästinenser:innen kenne, die einander mögen. In Zeiten wie diesen, wird mir klar, wie ungewöhnlich das ist. Ich habe die letzten zehn Jahre damit verbracht, mich in den Nahostkonflikt zu vertiefen. Nicht auf eine theoretische Art, sondern sehr nah, sehr direkt: Ich freundete mich mit zahlreichen Israelis und Palästinenser:innen an und half ihnen dabei, auch untereinander Freundschaften zu schließen, trotz (und gerade wegen) der Tatsache, dass ihre beiden Nationen eigentlich Feinde sind.
Viele dieser Freundschaften haben bis heute Bestand und so kommt es, dass in Israel, im Iran, im Westjordanland, und sogar in Gaza jedes Mal bange Herzen vor Sorge hämmern, wenn dieser Konflikt seine tödlichen Tentakel ausstreckt, denn wenn man auch nur einen einzigen Menschen auf der 'anderen' Seite liebgewonnen hat, dann ist es unmöglich, kein Mitgefühl zu empfinden.
Frieden ist keine einfache Sache
Bevor also in Gaza die Lichter ausgingen, schrieb mir A. ein junger Palästinenser, der sich seit Jahren für Frieden zwischen Israel und Palästina einsetzt, wenn auch nur heimlich, der Repressalien wegen. Er war ebenso schockiert von dem furchtbaren Angriff wie wir alle, und was ihm dabei so schwer auf der Seele lag, war, dass er seine israelische Freundin nicht erreichen konnte, die, wie er sagte, irgendwo rund um Tel Aviv lebt. Die beiden kannten sich nur aus dem Internet, sie hatten einander nie getroffen und sich ausschließlich über einen verschlüsselten Messenger-Dienst unterhalten, aber selbst diese virtuelle Freundschaft war genug, um bei ihm Sorge und Mitgefühl auszulösen.

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Mitten im Angriff, als die Kämpfer der Hamas noch mordeten, vergewaltigten und kidnappten und Menschen sich verzweifelt in Sicherheit zu bringen versuchten, erreichte mich eine Nachricht von L., einer jüdischen Freundin, die viele Jahrzehnte in Israel gelebt hatte und erst kürzlich in die USA umgezogen war. Sie sei verrückt vor Sorge um ihr Heimatland und die Menschen, die sie dort zurück gelassen hatte, aber ebenso sehr fürchte sie um das Leben der Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza. 'I am so heartbroken', schrieb sie mir, und fuhr fort: 'Frieden ist keine einfache Sache. Gewaltlosigkeit beginnt bei uns. Und das ist überhaupt das Allerschwierigste: Dieser innere Dialog, bei dem man sich fragen muss: Auf welche Art trage ich eigentlich dazu bei, dass Menschen dehumanisiert werden, sodass Gewalt gegen sie vernünftig und berechtigt erscheint? Wir sind dazu sozialisiert worden, die andere Seite zu entmenschlichen und das Resultat davon ist immer eine Tragödie.'
L. bringt das Ganze ziemlich gut auf den Punkt – viel besser als ich das könnte, weil mir, angesichts dieses nie dagewesenen Ausmaßes von Gewalt, buchstäblich die Worte fehlen. In meiner Bubble ist es normal, dass wir einander beistehen, aufeinander achten und füreinander da sind, weil wir begriffen haben, dass wir nicht auf verschiedenen Seiten dieses Konfliktes stehen, sondern alle auf derselben Seite: Der Seite des Friedens, in der wir einander Sicherheit, Souveränität, Freiheit und Wohlergehen wünschen, ganz gleich welcher Nation oder Ethnie wir angehören.
Uns verbindet mehr, als uns trennt
In den unzähligen Gesprächen, die meine israelischen und palästinensischen Freund:innen und ich miteinander geführt haben, haben wir irgendwann verlernt, einander als 'Israelis', 'Palästinenser' oder was auch immer zu sehen, weil wir festgestellt haben, dass uns mehr verbindet, als uns trennt: Wir alle sind zum Beispiel rigoros dagegen, dass Menschen einander Gewalt antun, weil wir festgestellt haben, dass Gewalt immer Gegengewalt nach sich zieht und damit am Ende niemandem geholfen ist.
Uns alle verbindet außerdem eine tief sitzende Ablehnung gegen alles, was nur im Entferntesten nach extremistischen Ideologien, nach fanatischem Nationalismus, nach Fundamentalismus und nach Menschenverachtung in jedweder Form riecht. Darin unterscheiden wir uns von gewissen Menschen in unseren jeweiligen Ländern, die solche Ideologien für ein probates Mittel halten, ihren Willen durchzusetzen.

Kein Konflikt ist emotional so aufgeheizt wie der im Nahen Osten
Mein Freund Ronny aus Tel Aviv teilt die Menschheit in vernunftbegabte Wesen und Vollidioten ein und von ihm habe ich gelernt, dass es in diesem Konflikt tatsächlich zwei Seiten gibt: Menschen, die sich Frieden wünschen und Menschen, die Sieg wollen. Beide Arten von Menschen gibt es in beiden Nationen und überall auf der Welt. Kein Konflikt ist emotional so aufgeheizt wie der Nahostkonflikt. Kein Konflikt bewirkt bei so vielen außenstehenden Menschen das Gefühl, persönlich Stellung nehmen zu müssen. Aber der Nahostkonflikt ist, um es mit einem Wort zu sagen, kompliziert.
Die politischen Führungen beider Völker haben sich in der Vergangenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wenn es darum geht, ernstgemeinte Schritte in Richtung Frieden zu unternehmen. Gewalt führt zu Gewalt führt zu Gewalt und so beißt sich die Katze gleich mehrmals in den Schwanz. Weil ein Leid das andere bedingt und umgekehrt, entsteht ein Paradox, das kaum aufzulösen ist, wenn man nicht in der Lage ist, Gleichzeitigkeit auszuhalten. Doch gerade diese Gleichzeitigkeit ist die einzig richtige Antwort: Mitgefühl und Solidarität für die Menschen in Israel schließt Mitgefühl für die Zivilistinnen und Zivilisten des Gazastreifens und des Westjordanlandes nicht aus und umgekehrt. Denn am Ende geht es immer um Menschen. Um Menschen mit einer Geschichte, mit Gefühlen, Gedanken und Ängsten und Hoffnungen. Um Menschen, die das Pech haben, in einen Konflikt hineingeboren worden zu sein, den sie selbst nicht verursacht haben. Um Menschen, die sich Frieden wünschen und denen das Leben sehr schwer gemacht wird von anderen Menschen, die keinen Frieden, sondern Sieg wollen.
Frieden ist ein Geisteszustand
Frieden, das ist nicht einfach nur die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist ein Geisteszustand. Und keiner wird jemals Frieden haben, wenn nicht beide in Sicherheit und Freiheit leben können, frei von Unterdrückung, frei von Angst, frei von Bedrohung. Nur wenn es den Menschen auf beiden Seiten gut geht, nur wenn sich beide Seiten in ihrem Schmerz und ihrem Trauma gesehen und angenommen fühlen, ist ein nachhaltiger Frieden möglich.
Für die Menschen in meiner Bubble ist der Krieg eine schreckliche Realität, jetzt mehr denn je. Fast jeder, den ich in Israel kenne, kennt jemanden, der bei den jüngsten Angriffen verstorben ist oder – fast noch schlimmer – gefangengenommen wurde. Es ist unmöglich, diesen Schmerz in Worte zu fassen. Das Einzige, das dabei hilft, ist das Umarmtwerden von Menschen, die das Gleiche durchmachen. Oder, wie meine jüdische Freundin L. es in ihrer letzten Nachricht schrieb: 'Mein Herz ist so schwer wie deines, aber ich bin immer hier, wenn du reden willst!'"