Norden Israels Wächter der Geisterstadt: Ein Blick auf Israels zweite Front

Der Krieg zieht auch in den Norden Israels. Dort halten wenige Bewohner stand, unter ihnen der Bürgermeister von Kirjat Schmona.
Ein Bild der Stadt
Entvölkert: das Zentrum des evakuierten Kirjat Schmona
© Yoray Liberman

Wenn die Sirenen heulen an Israels Grenze zum Libanon, bleiben knapp zehn Sekunden bis zu einem möglichen Raketeneinschlag. Avichai Stern hat in den Angriffen inzwischen einen Rhythmus entdeckt: "Meist kommen die ersten Raketen am Mittag", sagt er. "Dann noch mal gegen vier, fünf Uhr nachmittags." Der Alarm ist zur Routine geworden für den Bürgermeister der Kleinstadt Kirjat Schmona.

Es ist kurz vor elf. Nach dem gewohnten Ablauf bleibt Stern nicht mehr viel Zeit, bis er erstmals in Deckung gehen muss. Der 38-Jährige sitzt in seiner raketensicheren Einsatzzentrale, einem fensterlosen, klinisch hell beleuchteten Kellerraum der alten Stadtverwaltung. Auf einem Bildschirm an der Wand kann Stern zwischen verschiedenen Überwachungskameras wechseln. Sie zeigen ihm seine Stadt: Durch die Straßen von Kirjat Schmona laufen mehr Katzen als Menschen.

Portrait von Avichai Stern
Stadtchef mit Sicherheitsweste: Avichai Stern, 38, in Kirjat Schmona
© Yoray Liberman

Ruhig ist es hier schon immer gewesen, zumindest in den vergangenen Jahren, aber auf eine andere, eine gute Art. Wie ein grünes Band streckt sich die Chula-Ebene, in dem die Stadt liegt, durch den Norden Israels. Die Bauern pflanzten Avocados und Granatäpfel. Die Leute machten Urlaub in den Bungalows der umliegenden Kibbuzim. Und die Hisbollah, die Terrormiliz auf der anderen Seite der Grenze zum Libanon, verhielt sich ruhig nach ihrem letzten Krieg mit Israel 2006.

Doch nun herrscht Angst im Paradies. Kirjat Schmona steht täglich unter Beschuss. Seit dem Hamas-Massaker vor inzwischen drei Monaten feuert die Hisbollah, der beste Freund von Israels Erzfeind Iran, immer mehr Raketen über die Grenzhügel. Das israelische Militär (IDF) schlägt zurück. Noch ist es ein Krieg auf Sparflamme. Aber die Furcht ist groß, dass genau hier der nächste Konflikt in Nahost eskalieren könnte. Von den 22.000 Einwohnern von Kirjat Schmona sind nur 3000 in der Stadt geblieben. Solche, die nicht wegwollen. Solche, die bleiben müssen. Auf Avichai Stern trifft beides zu.

Erschienen in stern 03/2024