Genau ein halbes Jahr ist vergangen seit der Stunde Null in Nahost. Seit Terrorschwadronen der Hamas und des Islamischen Dschihad die Grenzbarrikaden Gazas zu Israel einrissen, um dort zu morden, zu vergewaltigen und zu entführen. Seit Israels Premier Benjamin Netanjahu mit unablässiger Härte eine militärische Antwort gab, koste es, was es wolle. Mit dem 7. Oktober ist Israel zu einem Land von Wut und Angst, Gaza zu einem Streifen der Zerstörung und des Leids geworden. Doch dieser Krieg wird nicht nur mit Raketen und Panzern geführt, hinter menschlichen Schutzschilden und in Tunneln voller Geiseln. Dies ist auch ein Krieg der Kameralinsen.
Fotos erzählen Geschichten. Und gerade in einem Konflikt, in dem sich Gut und Böse nicht einfach trennen lassen, in dem Israelis wie Palästinenser berechtigte Interessen anführen, zählt, wer mit seiner Geschichte durchkommt. Anhand von sechs Bildern zeigt der stern, wie sich das Narrativ im Nahostkrieg in den vergangenen sechs Monaten gewandelt hat.
Der 7. Oktober

Der tödlichste Tag in der Geschichte ihres Landes begann für viele Israelis mit einem gewohnten Geräusch: dem Luftalarm. Doch an diesem frühen Samstagmorgen schickte die Hamas nicht nur Raketen und Mörsergranaten. Sie überlief die Außenposten der israelischen Armee (IDF). Sie nahm die Polizeistation in der Stadt Sderot ein. Sie massakrierte 1139 Menschen in den grenznahen Kibbuzim, nahm rund 250 Geiseln.
Bilder aus den Straßen Gaza-Stadts zeigen gefeierte Terroristen, die die Verschleppten wie Jagdtrophäen auf ihre Pick-up-Trucks geladen haben. In diesem Moment ist klar: Israel wurde von Barbaren angegriffen. Es hat das Recht, sich zu verteidigen.
Die Kampfhandlungen verschoben sich schnell nach Gaza, zunächst mit großflächigen Angriffen der IDF-Luftwaffe. Doch noch immer wurden ausgemergelte Hamas-Schergen auf israelischem Boden aufgespürt, da bot Israels Militär bereits erste Touren durch die zerstörten Kibbuzim an. stern-Fotograf Yoray Liberman schoss obiges Foto in einem blutverschmierten Kinderzimmer in Be’eri. Allein hier wurden am 7. Oktober mehr als 100 Menschen getötet. Mit den Pressetouren wollte Netanjahu den Schrecken konservieren, mit den Bildern seine Kriegslegitimation aufrechterhalten. Es ging nicht lange gut.
Proteste in Tel Aviv

Netanjahu war schon im Sommer 2023 wegen einer umstrittenen Verfassungsreform chronisch unbeliebt gewesen. Seine Hoffnung, die Israelis würden sich nach diesem beispiellosen Angriff auf ihr Land hinter ihm vereinen, verschwand im Kriegsnebel. Viele Bürger nahmen ihm übel, dass er als Primärziel des Militäreinsatzes in Gaza immer wieder die endgültige Zerschlagung der Hamas nennt. Und nicht die Befreiung der entführten Landsleute.
"Bringt sie nach Hause! Jetzt!", hallte es von nun an fast täglich durch Tel Avivs Straßen, vor allem über einen großen Platz vor dem Kunstmuseum. Die Demonstranten tauften ihn: den Geiselplatz. Bald waren es Zehntausende. Aus ihrer Sicht vernachlässigte Netayahu nicht nur das Schicksal der Geiseln – er hatte den blutigen Überfall durch ignorante Sicherheitspolitik überhaupt erst ermöglicht. "Unsere Regierung handelt nicht. Deshalb bin ich fast jeden Tag hier. Die Geiseln militärisch zu befreien, ist keine Option. Es ist zu riskant. Dann kommen sie tot zurück", sagte Ofir Weinberg dem stern eines Abends auf dem Geiselplatz. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass sie ihren Cousin Itai nie wieder sehen wird. Die Hamas wird ihn in Gefangenschaft ermorden.
Der Geiseldeal

Ende November, Bilder der Hoffnung: 69 Geiseln können Gaza wieder verlassen, darunter 50 Israelis. Beide Kriegsparteien haben sich am Verhandlungstisch im katarischen Doha geeinigt: Die Geiseln kommen im Austausch für 150 palästinensische Gefangene, hauptsächlich Frauen und Jugendliche, frei. Es gibt eine siebentägige Waffenruhe.
Auf ihren Propaganda-Kanälen verbreitete die Hamas Videomaterial der Freilassung. Darin legt ein Terrorist einem kleinen Jungen den Arm über seine Schulter. Eine alte Dame winkt ihren Peinigern zum Abschied zu. Die gespielte Botschaft: Seht her, wir haben sie doch gut behandelt! Später erzählten einstige Geiseln von Erniedrigungen, von Gewalt und Hunger. Und auch die Hoffnung, dass aus einer Waffenruhe ein Waffenstillstand erwachsen könnte, löste sich schnell auf. Anfang Dezember nahm die IDF ihre Kampfhandlungen wieder auf. Netanjahu hatte inzwischen Bodentruppen nach Gaza entsendet. Sie kämpften sich langsam den Streifen Richtung Süden vor.
Sterben in Gaza

Terroristen, die sich in den Tiefen des dicht besiedelten Gazas verstecken. Eine Armee mit Schaum vor dem Mund. Den Preis dafür bezahlen muss die palästinensische Zivilbevölkerung. Über 30.000 Menschen sollen seit 7. Oktober in Gaza gestorben sein, zwei Drittel davon Frauen und Kinder.
Ein Guerillakampf kommt nie ohne zivile Opfer aus. Doch eines macht die Lage in Gaza so katastrophal einzigartig: die Menschen sind abgeriegelt, die Grenzen nach Israel und Ägypten dicht. Sie können nirgendwo hin. Immer weiter werden Familien vertrieben, müssen sie eigentlich als sicher markierte Zonen erneut verlassen. Auf den beiden großen Straßen Richtung Süden bilden sich Flüchtlingstrecks. 1,5 Millionen Menschen und damit ein überwiegender Teil der Bevölkerung suchen inzwischen in der südlichsten Stadt Rafah Zuflucht. Mit zunehmender Kriegsdauer rückt das Leid in Gaza in den Fokus der Weltöffentlichkeit.
Die Tunnel der Hamas

Die Israelis wissen um die verheerenden Kollateralschäden ihres Militäreinsatzes. In die Welt wollen sie andere Bilder senden: von Waffenlagern in Schulen, von einem Tunnelsystem unter dem Al-Shifa-Krankenhaus, von einem Feind, der überall und nirgendwo sein kann und sich die zivile Infrastruktur zu eigen gemacht hat.
Die IDF lässt sich deshalb von Reportern durch kontrolliertes Gebiet in Gaza begleiten, im Fachjargon embedment genannt. Für Journalisten ist solch ein Einsatz eine moralische Zwickmühle. Der US-Sender CNN machte öffentlich, dass er sämtliches Material vor Veröffentlichung noch einmal der israelischen Armee vorlegen musste.
Kriegsfotograf Ziv Koren war mehrmals selbst mit der IDF in Gaza. Eine Nachzensur habe es nicht gegeben. Und doch sagt er: "Eines deprimiert mich besonders: Du fotografierst, was du kannst. Nicht, was du willst. Natürlich willst du als Fotograf beide Seiten zeigen. Aber du kannst im Krieg nicht einfach an der Frontlinie hin- und herspringen."
Die humanitäre Katastrophe

Innerhalb von sechs Monaten ist Israel von einem Staat, dem die westliche Welt bedingungslos zur Seite stand, zu einem Partner geworden, dessen Handlungen kaum mehr zu rechtfertigen sind. Das liegt zum einen am strammen Kriegskurs Netanjahus, der zunehmend Druck spürt, nicht nur aus dem eigenen Land, sondern vor allem aus den USA. Und zum anderen an der Kraft der Bilder.
Was die Augen der Weltöffentlichkeit nun sehen, sind ausgehungerte Kinder, Krankenhäuser über dem Limit, ein von Israel angegriffener NGO-Konvoi, Hilfslieferungen, die zu Massenpaniken führen. Die humanitäre Katastrophe in Gaza. Es gibt keine aktuellen Zeugnisse der noch etwa 130 israelischen Geiseln in den Fängen der Hamas. An Fotos von Demonstranten und Tunneln wurde sich sattgesehen. Die schrecklichen Aufnahmen des 7. Oktober – sie sind verblasst.