Klimawandel Paragrafen gegen Beton – wieso vier indonesische Fischer den Baustoffgiganten Holcim verklagen

Zementfabrik der Holcim AG
Werk der Holcim AG bei Hannover: Gegen den Schweizer Baustoffproduzenten wurde ein Klageverfahren eingeleitet
© Rust / Imago Images
Es klingt fast absurd, ist seit heute aber Wirklichkeit: Vier Fischer aus Indonesien verklagen die Schweizer Holcim AG. Der Konzern, sagen die Fischer, sei mitverantwortlich für den Klimawandel – und damit für den Untergang ihrer Heimat. Eine exklusive Recherche vom stern und RTL.

Die Wassermassen kommen immer öfter und immer überraschender. Niemand auf der kleinen Insel kann sie voraussehen. Im November 2021 schwappten die bedrohlichen Fluten durch die Häuser, schwemmten Kühlschränke fort und Möbel und versalzten die Brunnen. Die strohgedeckten Sonnendächer, die bunten Boote im Hafen von Pari, danach ein Bild der Verwüstung.

Gerade hatten die Inselbewohner angefangen, das Chaos aufzuräumen, da kam das Wasser zurück. Und wenige Tage später nochmal, in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember. Und Mitte Mai 2022 wieder, damals über drei ganze Tage, und dann am 25. desselben Monats erneut. Der Katastrophenfall ist für die Menschen auf der Insel Pari, gelegen in der Javasee, nur Kilometer vor der indonesischen Hauptstadt, zum Normalfall geworden. "Als ich ein Kind war, da gab es so etwas nicht", sagt der 36-jährige Fischer Edy Mulyono gegenüber RTL/stern. "Es gab nicht solche extremen Wetterphänomene."

Klimawandel: Vier Fischer gegen den größten Zementkonzern der Welt

Wer in Hamburg von der Elbphilharmonie zu den Landungsbrücken läuft, der hätte die Insel Pari bereits von einem bis zum anderen Ende abgeschritten. Knapp zwei Kilometer Fußmarsch. Bald könnte der Spaziergang auf der anderen Seite des Globus noch kürzer werden. Denn Pari versinkt im Meer. Und daran ist auch die Elbphilharmonie schuld, aber dazu später mehr. Eine Fläche, so groß wie acht Fußballfelder, ist auf Pari bereits abgesoffen. Innerhalb von acht Jahren hat die Insel 11 Prozent ihrer Fläche verloren. Schuld ist der Klimawandel.

In einem Hintergrundpapier für politische Entscheider hat das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) vor wenigen Monaten die Eckdaten zusammengefasst. Demnach ist der Meeresspiegel in den vergangenen fünfzig Jahren um gut 20 Zentimeter angestiegen. Auf Pari, wo der höchste Punkt nur wenige Meter über Normal Null liegt, kommt das einer Katastrophe gleich. Doch ihr Schicksal wollen die Inselbewohner nicht mehr so einfach hinnehmen. Heute, an diesem Montag, den 11. Juli 2022, haben sie den Kampf offiziell aufgenommen. Sie greifen einen Riesen an.

Vier Fischer von der Insel haben rechtliche Schritte gegen die Holcim AG eingeleitet, den größten Zementkonzern der Welt, den sie für den Untergang ihrer Insel mitverantwortlich machen. Vor wenigen Stunden wurde im Schweizer Zug ein Klageverfahren gegen den Konzern eröffnet. Mit offiziellem Stempel hat die Stadtkanzlei der Stadt Zug den Eingang um 10:55 Uhr bestätigt, wie exklusive RTL/stern-Informationen belegen.

Wieso ausgerechnet die Holcim AG?

Die Hoffnungen der vier Indonesier – eine Frau, drei Männer – sind groß. "Ich erwarte von Holcim, dass sie ihre Treibhausgase reduzieren", sagt Edy Mulyono, einer der vier Kläger. "Und ich erwarte, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, für ihren Anteil am Klimawandel." Mit seiner Frau und drei Kindern lebt er seit jeher auf der Insel, führt eine Fischfarm und eine Unterkunft für Touristen. Mehrere Jahre war er Dorfvorsteher. Mulyono kennt seine Insel bestens – und er weiß ganz genau, mit wem sich die kleine Inselgemeinschaft jetzt anlegt. "Warum Holcim?", fragt Fischer Edy Mulyono und gibt sogleich selbst die Antwort. "Wir glauben, dass Holcim drastisch zur Zerstörung der Umwelt und der Natur beigetragen hat."

Damit könnte der Fischer Recht haben. Die Holcim AG ist ein Gigant. Der größte Zementkonzern der Welt. Laut einer Studie des US-amerikanischen Climate Accountability Institute, die RTL und dem stern exklusiv vorliegt, ist der Konzern für 0,42 Prozent der gesamten Treibhausgase verantwortlich, die seit dem Jahr 1750 auf dem ganzen Planeten in die Luft geblasen wurden. In den 70 Jahren zwischen 1950 und 2020 habe Holcim mehr als sieben Milliarden Tonnen Zement produziert, so die Studie weiter, die dabei verursachten CO2-Emissionen beliefen sich auf etwa die gleiche Summe. Damit gehört die Holcim AG zu den "Carbon Majors", den belastendsten Konzernen für das Klima auf dem Planeten. Hervorgegangen ist das Unternehmen aus der Schweizer Holderbank und der französischen Lafarge.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Auch in Deutschland ist der Konzern aktiv. Wenn U-Bahnhöfe gebaut werden, Freizeitparks oder Rheinbrücken, dann wird auch Holcim-Zement verbaut. Allein in der Elbphilharmonie in Hamburg stecken 30.000 Tonnen Zement von Holcim und 63.000 Kubikmeter Beton, mit einer verheerenden Klimabilanz. Laut dem Umweltwissenschaftler Yvan Maillard Ardenti vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der Schweiz (HEKS) gehört die Zementindustrie zu den größten globalen Klimasündern. "Zement weltweit ist etwa dreimal so schlimm wie Fliegen", ordnet der Experte die Klimabilanz gegenüber RTL und dem stern ein. "Hier entsteht Klimawandel und Klimawandel verursacht Meeresspiegel-Anstieg."

Auf Anfrage von RTL und stern reagiert das Unternehmen schriftlich: "Holcim nimmt Klimaschutz sehr ernst. Wir haben unseren CO2-Fussabdruck über die vergangenen Jahrzehnte entscheidend reduziert. Wir werden diesen Weg im Einklang mit den wissenschaftlichen Anforderungen bis 2030 weiter beschleunigen und werden bis 2050 ein klimaneutrales Unternehmen sein."

"Das Verfahren gegen Holcim ist Teil einer weltweiten Bewegung"

Vertreten werden die vier indonesischen Kläger in der Schweiz durch eine Anwältin. Daneben stehen ihnen große Nichtregierungsorganisationen bei. In ihrer Heimat die indonesische Organisation WALHI, die schweizerische HEKS und in Berlin das ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights). Allen Beteiligten ist klar, dass das Verfahren in der Schweiz Modellcharakter hat. "Das eingeleitete Verfahren gegen Holcim in der Schweiz ist Teil einer weltweiten Bewegung", sagt ECCHR-Menschenrechtsanwältin Miriam Saage-Maass. "Unternehmen können sich nicht mehr verstecken." Immer mehr Menschen stünden nun auf und wehrten sich. "Sie akzeptieren nicht weiter, dass Unternehmen auf ihre Kosten wirtschaften, das Klima ruinieren und Menschenrechte verletzen."

Die eingereichten Unterlagen, mit denen das Klageverfahren eröffnet wurde, haben es in sich. Sie liegen RTL/stern exklusiv vor. Darin werden zwei Richtungen vorgegeben. Einmal wollen die vier Kläger ganz konkret für sich und ihre Inselgemeinschaft Schadensersatzzahlungen für die Zerstörung von Häusern, Fischfarmen und Infrastruktur bekommen. Dazu soll der Konzern Schutzmaßnahmen finanzieren, durch welche die Insel vor zukünftigen Unwettern geschützt wird. Gerade versuchen die Menschen auf Pari etwa, in größerem Stil Mangroven zu pflanzen, um einen natürlichen Schutz vor Überflutungen zu bekommen. Die zweite Zielrichtung dürfte für die Holcim AG jedoch weit bedeutender sein. Die vier Kläger wollen den Zementkonzern auf eine drastische Senkung seines CO2-Ausstoßes verpflichtet wissen. So soll die Holcim AG ihre Treibhausgase bis 2030 um 43 Prozent reduzieren (zum Vergleichsjahr 2019), bis 2040 um 69 Prozent. Dies wäre gewiss nur mit umfangreichen und teuren Investitionen möglich. Wahrscheinlich müsste der Konzern seine Beton- und Zementproduktion völlig umstellen.

David gegen Goliath

"Das Ziel der Klage ist, dass die Holcim AG für den Schaden, den sie mit verursacht hat, geradestehen muss", sagt die Schweizer Juristin Nina Burri zu RTL und stern. Die Menschenrechtsanwältin, die früher auch schon gegen internationale Kriegsverbrecher ermittelt hat, sieht die Menschen von Pari als direkte Betroffene des Klimawandels, so wie viele Millionen andere Menschen, vor allem im Süden des Planeten. Für Burri hat ihr Vorgehen Modellcharakter. "Holcim hat den Klimawandel mit verursacht, und das schädigt nun viele, viele Menschen", so die Menschenrechtsanwältin. "Und die könnten sich nun alle wehren dagegen."

Bislang wurde die Insel Pari am Wochenende oft von Touristen vom Festland überlaufen, die sich an den paradiesischen Stränden entspannen wollen, zu den Riffs schippern lassen und später in den kleinen Lokalen Fisch essen. Durch die Fluten der vergangenen Monaten bleiben die Besucher nun vermehrt aus. Für die Menschen auf Pari bedeutet das, dass ihre wirtschaftliche Existenz bedroht ist, zusätzlich zu den Gefahren durch die Natur. Alle auf der Insel wissen, dass das Zeitfenster, um noch etwas retten zu können, nur noch sehr klein ist. Deswegen ist der Fischer Edy Mulyono entschlossen, all seine Kraft auf die Auseinandersetzung mit dem Konzern im fernen Europa zu konzentrieren. "Erstens erwarte ich, dass sie ihre Treibhausgase reduzieren", sagt er. "Dann, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, für ihren Anteil am Klimawandel. Dafür, was sie etwa auf der Insel Pari zu verantworten haben, nämlich dass die Insel langsam im Meer versinkt." Noch ist es ein Kampf David gegen Goliath. Aber bald könnten es sehr viele Menschen sein, die sich den vier indonesischen Fischern anschließen – in ihrem Kampf gegen den weltweiten Klimawandel.