Es war eine handfeste Überraschung zum Ende der rund neunstündigen mündlichen Urteilsbegründung am Mittwochabend. Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats ordnete an, dass Lina E., die er im selben Urteil zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte, auf freien Fuß kommt – wenn auch unter Auflagen.
Die 28-Jährige wurde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung schuldig gesprochen. Unter anderem war sie nach Überzeugung des Oberlandesgerichts Dresden an mehreren gewalttätigen Angriffen auf Rechtsextremisten in den Jahren 2019 und 2020 beteiligt – "Selbstjustiz" nannte das Gericht die Taten in einer Erklärung. Mit dem Urteil blieb es unter der Forderung der Bundesanwaltschaft von acht Jahren Freiheitsstrafe. Strafmildernd haben sich Schlüter-Staats zufolge unter anderem das bislang leere Führungszeugnis der Verurteilten, die teils vorverurteilende Berichterstattung in einigen Medien, das gute Verhalten in der Untersuchungshaft sowie ihre Rheuma-Erkrankung ausgewirkt.
Lina E. saß mehr als zweieinhalb Jahre in U-Haft
Lina E. wurde im November 2020 in ihrer Wohnung im Leipziger Stadtteil Connewitz festgenommen und saß seither in Untersuchungshaft. Diese wird auf die verhängte Gefängnisstrafe angerechnet. Bei "guter Führung" könnte der Verurteilten zudem ein Drittel ihrer Haftzeit erlassen werden – wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie keine Straftaten mehr begehen werde. Unterm Strich bliebe womöglich noch eine rund einjährige Haftzeit, die Lina E. in der Justizvollzugsanstalt absitzen müsste. Warum kam sie nach dem Prozess trotzdem frei?
Das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden ist noch nicht rechtskräftig – dies ist erst eine Woche nach Verkündung der Fall, und auch nur, wenn keine Seite Rechtsmittel einlegt. Genau das hat die Verteidigung von Lina E. jedoch schon unmittelbar nach dem Schuldspruch angekündigt. Bis der Bundesgerichthof über die Revision entschieden hat, kann es Monate dauern.
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Menschen ohne ein rechtskräftiges Urteil einzusperren, ist in einem Rechtsstaat nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Zum Beispiel wird Untersuchungshaft verhängt, wenn Flucht- oder Verdunkelungsgefahr besteht. Beides sieht das Oberlandesgericht im Fall von Lina E. nicht mehr als gegeben an. Verdunkeln lässt sich nichts mehr, denn die Beweisaufnahme ist abgeschlossen. Und bei einer möglicherweise "nur" noch einjährigen Rest-Haftstrafe ist der Anreiz zur Flucht geringer, als er bei einer deutlich längeren Zeit im Gefängnis wäre. Um das Risiko eines Untertauchens von Lina E. weiter zu reduzieren, hat das Gericht zudem mehrere Auflagen für die Haftverschonung erteilt. So muss sie ihren Reisepass und Personalausweis abgeben und darf ihren Wohnsitz nur mit Zustimmung des Gerichts verlassen. Zweimal pro Woche muss sie sich zudem bei der Polizei melden.
Eine solche Haftverschonung ist laut Oberlandesgericht und Deutschem Richterbund ein übliches Verfahren für nicht vorbestrafte Personen.
Im Verhandlungssaal brach nach der Aussetzung des Haftbefehls Jubel aus. Ihre Reststrafe muss Lina E. erst verbüßen, falls das Urteil rechtskräftig wird. Sie verließ das Gericht als vorerst frei Frau.

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Quellen: Oberlandesgericht Dresden, Nachrichtenagenturen DPA und AFP