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Nach Urteil gegen Lina E. Linke Szene ruft zur "Tag X"-Demonstration in Leipzig auf – worauf sich die Stadt vorbereitet

Demonstration in Leipzig nach Urteil gegen Lina E.
Bereits am Abend nach der Verkündung des Urteils gegen Lina E. lieferten sich Protestierende und Polizei in Leipzig und anderen Städten Scharmützel. Für den "Tag X" am Samstag wurde zu weiteren Aktionen in der Messestadt aufgerufen.
© Sebastian Willnow / DPA
Die linke Szene ruft zu Großprotesten auf, die Behörden reagieren mit Grundrechtseinschränkungen. Vor dem "Tag X" in Leipzig wächst die Nervosität. Was kommt an diesem Samstag auf die Messestadt zu?

Es kursieren Gewaltaufrufe, die Gewerkschaft der Polizei befürchtet einen Rachefeldzug gegen Beamtinnen und Beamte, die Sicherheitsbehörden sind angespannt. In Leipzig werden am Samstag Tausende Personen aus der linken Szene zu einer inzwischen verbotenen Demonstration erwartet. Die Nervosität steigt vor dem Wochenende. Die Protestierenden geben sich kämpferisch, die Polizei sich vorbereitet. Was kommt da auf die Messestadt und ihre rund 590.000 Einwohnerinnen und Einwohner zu?

Anlass für die Proteste ist das Urteil gegen die linke Gewalttäterin Lina E. am Oberlandesgericht Dresden vom Mittwoch. Die 28-Jährige wurde zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie in den Jahren 2019 und 2020 in mehreren Fällen Rechtsextreme brutal angegriffen hat – "Selbstjustiz" nannte das Gericht die Taten in einer Erklärung (lesen Sie dazu im stern: "Lina E. wurde zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt und ist trotzdem auf freiem Fuß. Warum?"). Ein Richterspruch, der auch mit Blick auf mitunter vergleichsweise milde Urteile gegen rechte Gewalttäter in der linken Szene Empörung hervorrief. Im Laufe des mehr als anderthalb Jahre laufenden Verfahrens wurde Lina E. zu einer Symbolfigur der Linken.

Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was Leipzig möglicherweise am Wochenende bevorsteht, lieferte die Szene schon am Mittwochabend nach der Verkündung des Urteils gegen Lina E. Sowohl dort als auch in anderen Städten wie Dresden, Berlin, Hamburg oder Bremen versammelten sich insgesamt mehrere Tausend Unterstützerinnen und Unterstützer der Verurteilten. Nicht immer blieben die Proteste friedlich, es gab Festnahmen und Verletzte. Bundesinnenministerin Nancy Faeser verurteilte die Ausschreitungen. Gewalt sei "die völlig falsche Antwort" auf das Urteil, sagte die SPD-Politikerin am Tag danach.

Linke Szene mobilisiert für "Tag X" in Leipzig

Und dennoch: Die linke Szene will eine Antwort auf den Straßen Leipzigs geben. Schon seit Monaten wird auf einschlägigen Internetseiten und auf Flyern für den "Tag X" getrommelt, den ersten Samstag nach der Urteilsverkündung. "Wir sind wütend und wollen dieser Wut mit euch gemeinsam Ausdruck verleihen." Auch im Ausland wurde für die Proteste mobilisiert. Die gesamte europäische Linke ist nach Leipzig "eingeladen" – der G20-Gipfel in Hamburg vor sechs Jahren lässt grüßen.

Die Versammlungsbehörde der Stadt Leipzig reagiert auf die Ankündigung mit ihrem schärfsten Schwert: Sie schränkt das Versammlungsrecht aus Artikel 8 des Grundgesetzes an diesem Wochenende in der Messestadt massiv ein. "Im Stadtgebiet der Stadt Leipzig ist es (...) jedermann untersagt, an dem Samstag und Sonntag (3. und 4. Juni 2023) nach der Urteilsverkündung im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren (...), öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel zu veranstalten oder daran teilzunehmen, welche sich inhaltlich auf den Antifa-Ost-Prozess bzw. dessen Angeklagte beziehen (...)", heißt es in einer Allgemeinverfügung. Der Grund: Die Versammlungsbehörde geht von einem "mit hoher Wahrscheinlichkeit unfriedlichen Verlauf" aus und erwartet "erhebliche und schwerwiegende Gefahren für die öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung".

Am Donnerstagabend verbot die Stadt wegen Sicherheitsbedenken auch die bereits vor dem Mittwoch angemeldete "Tag X"-Demonstration. Sie sollte ab 17 Uhr von Connewitz bis zum Hauptbahnhof führen, bereits für den Freitagabend ist zu einem "Massencornern" in dem südlichen Stadtteil aufgerufen worden – an das Verbot für den Samstag halten will man sich offenkundig nicht. "Jetzt erst recht! Kommt alle nach Leipzig!", schreiben die Verfasserinnen und Verfasser in ihren jüngsten Aufrufen.

Die Organisatoren der "Tag X"-Demonstration wehren sich juristisch gegen das Verbot durch die Stadt. Es sei ein Eilantrag gegen das Verbot eingegangen, sagte der Sprecher des Verwaltungsgerichts Leipzig, Dirk Tolkmitt, am Freitag. Der zuständige Senat werde im Laufe des Tages darüber entscheiden. Kläger sei eine Privatperson, der Anmelder der Demo.

Klar ist: Es geht der linken Szene nicht nur um das Urteil gegen Lina E., sondern um das Vorgehen staatlicher Stellen gegen die Strukturen und Personen des autonomen Spektrums. Der Schuldspruch zum Prozessende ist ein Fanal für die Szene. "Das ist ein Angriff auf unsere Solidarität gegen diese Repression sowie die gesamte radikale Linke, den wir nicht hinnehmen werden!" Innenministerien und Verfassungsschutzbehörden äußerten sich zuletzt besorgt wegen einer wachsenden Gewaltbereitschaft in der linken Szene.

Polizei bereitet sich auf Ausschreitungen vor

Entsprechend kämpferisch und martialisch geben sich die Lina-E.-Unterstützenden Vorfeld der Demonstration. Sie geben Tipps für eine unauffällige Anreise, für das Verhalten bei Zusammenstößen mit Einsatzkräften und sammelten sogar die Autokennzeichen ziviler Polizeifahrzeuge. "In unseren gemeinsamen Kämpfen auf europäischer Ebene wird der 'Tag X' in Leipzig ein weiteres wichtiges Kapitel darstellen, vergleichbar mit den Aktionen rund um G8 in Rostock 2007, der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt 2015 oder zuletzt dem G20 in Hamburg", beziehen sie sich in einer Erklärung auf gewalttätige Demonstrationen in der Vergangenheit. Für jedes Jahr Haft in dem zu Ende gegangenen Prozess wird ein Sachschaden von einer Million Euro angekündigt. Wie glaubhaft diese und andere Drohungen sind, ist offen. In der Regel werden sie von anonymen veröffentlicht. Die Sicherheitsbehörden sprechen von "Aufrufen zu Militanz und zum Teil massiven Gewaltankündigungen". Die Proteste seien monatelang vorbereitet worden.

Wie viele Angehörige der linken Szene am Wochenende tatsächlich nach Leipzig kommen und wie viele davon möglicherweise gewaltbereit sind, ist nicht absehbar. Doch die Drohkulisse steht, Verbot hin oder her. Die Behörden gehen nach stern-Informationen von einer Teilnehmendenzahl im mittleren vierstelligen Bereich aus – ihnen wird ein ebenfalls vierstelliges Polizeiaufgebot gegenüberstehen.

Es ist Großeinsatz für die Leipziger Polizei am Wochenende. Sachsen erhält dabei Unterstützung aus mehreren Bundesländern und von der Bundespolizei. Die Beamtinnen und Beamten haben sich mit der Versammlungsbehörde abgestimmt und kommen ebenfalls zu dem Schluss, "dass auch gewaltbereite und gewaltsuchende Personen nach Leipzig reisen und Straftaten begehen werden". Hundertschaften, Hubschrauber, Wasserwerfer, Räumfahrzeuge sind in Bereitschaft – die Polizei muss das Versammlungsverbot durchsetzen und spricht vom größten Einsatz der jüngeren Vergangenheit in der Messestadt. Der "Tag X" ist ohnehin schon Großkampftag für die Leipziger Polizei, denn etliche Großveranstaltungen stehen dort auf dem Programm und müssen abgesichert werden. Zum Beispiel das Finale des sächsischen Fußballpokals zwischen dem 1. FC Lok Leipzig und dem Chemnitzer FC mit nicht nur unproblematischen Fans, ein Konzert von Herbert Grönemeyer, das Leipziger Stadtfest und ein Public-Viewing-Event zum DFB-Pokalfinale zwischen RB Leipzig und Eintracht Frankfurt. Insgesamt erwarten die Behörden Hunderttausende Besucherinnen und Besucher bei den Veranstaltungen.

Schon im Vorfeld wollen sie daher aufklären, wer in die Stadt kommt. Kontrollstellen an Einfallstraßen nach Leipzig und am Hauptbahnhof sollen eingerichtet werden. Zudem schränkt das sächsische Innenministerium in großen Teilen Leipzigs weitere Rechte ein und erklärt diese zu sogenannten Kontrollbereichen. In diesem darf die Polizei ohne weiteren Anlass die Identität jeder Person feststellen. Auch die Leipziger Polizei ist also vorbereitet auf den "Tag X" – sie stehe vor einer "herausragenden Aufgabe", heißt es. Ihren eigentlich für den 3. Juni geplanten Tag der offenen Tür hatte sie bereits vor rund einer Woche auf den 26. August verschoben. 

Quellen: Polizeidirektion Leipzig (1), Polizeidirektion Leipzig (2), Stadt Leipzig (1), Stadt Leipzig (2), Stadt Leipzig (3), "Indymedia", "Antifa-Ost", Nachrichtenagentur DPA

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