Demonstrationen Gießen vor Ausnahme-Wochenende – Innenminister in Sorge

Die Gießener Messehallen werden am kommenden Wochenende zum Veranstaltungsort für das Gründungstreffen der neuen AfD-Jugend. Pol
Die Gießener Messehallen werden am kommenden Wochenende zum Veranstaltungsort für das Gründungstreffen der neuen AfD-Jugend. Polizei und Stadt bereiten sich auf massive Gegenproteste vor. (Archivbild) Foto
© Boris Roessler/dpa
Tausende Polizisten, zahlreiche Demos und Kundgebungen gegen die AfD-Jugend – Gießen steht ein außergewöhnliches Wochenende bevor. Was bedeutet das für Sicherheit und Verkehr in der Stadt?

Der Stadt Gießen dürfte an diesem Wochenende der größte Polizeieinsatz ihrer Geschichte bevorstehen. Die AfD will in der mittelhessischen Stadt eine neue Jugendorganisation gründen – dagegen haben zahlreiche Organisationen zu Protesten aufgerufen. Polizei und Einsatzkräfte rechnen mit rund 50.000 Demonstranten und sind auch wegen Gewaltaufrufen besorgt. Welche Auswirkungen haben die Ereignisse für die Stadt und wie steht es um die Sicherheit?

Was ist geplant?

Die alte Organisation Junge Alternative (JA) war im Frühjahr aufgelöst worden, nachdem sich die AfD von ihr per Parteitagsbeschluss gelöst hatte. Sie war ein weitgehend eigenständiger Verein. Vor der Trennung war auch mit einem möglicherweise drohenden Vereinsverbot argumentiert worden – der Verfassungsschutz hatte die JA als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. 

Am 29. November soll nun eine neue Organisation gegründet werden, die wahrscheinlich Generation Deutschland heißen wird. Sie soll eng an die AfD gebunden werden, um mehr Durchgriff auf die Parteijugend zu bekommen. Bei dem Treffen soll sich die Parteijugend ein Statut und einen Namen geben und einen Vorstand wählen. Laut Parteivize Kay Gottschalk liegen fast 1.000 Anmeldungen von jungen Leuten vor, die bei der Neugründung mitmachen wollen.

Was wollen die Gegner?

Das Bündnis "widersetzen", nach Angaben einer Sprecherin ein Zusammenschluss aus unterschiedlichsten Gruppen wie antifaschistischen Initiativen, gewerkschaftlichen Gruppen und Klimaschützern, will die Zufahrtswege zum Gießener Messegelände blockieren mit dem Ziel, das Gründungstreffen zu verhindern. Aber auch zahlreiche andere Gruppen und Initiativen haben zu Demos und Kundgebungen aufgerufen, darunter der Deutsche Gewerkschaftsbund Mittelhessen, der ein Zeichen für Demokratie, Vielfalt und Solidarität setzen will, sowie der Kreisverband der Partei Die Linke, der die neue AfD-Jugendorganisation als "klar demokratiefeindlich" sieht.

Einschließlich eines bereits für Freitag geplanten Schüler-Sternmarsches stehen über 20 Aufzüge und Kundgebungen am Wochenende an. Erwartet werden mittlerweile rund 50.000 Teilnehmer, die nach Einschätzung von Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) überwiegend friedlich demonstrieren werden. Man müsse aber auch damit rechnen, dass wenige gewaltbereite und auch gewalttätige Teilnehmer dabei sein werden. Man gehe von einer etwa dreistelligen Zahl solcher Teilnehmer aus, aber auch eine vierstellige Zahl sei nicht ausgeschlossen.

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Wie wird für Sicherheit an dem Wochenende in Gießen gesorgt?

Seit Wochen bereiten sich Vertreter von Stadt und Polizei intensiv auf die Ereignisse am letzten November-Wochenende vor. In der Universitätsstadt mit ihren rund 92.000 Einwohnern werden dann mehrere tausend Polizisten aus Hessen und 14 anderen Bundesländern sein, auch Bundespolizisten sind an dem Großeinsatz beteiligt. Die Polizei bereitet sich auf alle möglichen Szenarien vor. Eingebunden sind auch Feuerwehr und Rettungsdienste. Ihr Einsatz müsse immer und überall unter Einhaltung der Rettungsfristen möglich sein, heißt es von der Stadt.

Sie hatte mit Verweis auf eine polizeiliche Gefahrenanalyse auch räumliche Beschränkungen für die Versammlungen verfügt, gegen die sich unter anderem der Deutsche Gewerkschaftsbund Hessen-Thüringen mit einem Eilantrag wehrte. Laut Verwaltungsgericht Gießen sind die Auflagen jedoch rechtens. Der entsprechende Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.

Werden Ausschreitungen befürchtet?

Die Polizei hatte vorab auf Gewaltaufrufe hingewiesen.Innenminister Poseck zeigte sich besorgt und erklärte: "Im Vorfeld der Neugründung der AfD-Jugendorganisation gibt es Gewaltaufrufe seitens der linken Szene. Diese verurteile ich scharf." Gewalt sei in der Demokratie "niemals ein legitimes Mittel". Wer Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung einsetze, disqualifiziere sich als Verfechter demokratischer Werte. "Jeder Gewalttäter ist ein Feind unserer Demokratie; egal, ob er links oder rechts steht. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die extremen Ränder zunehmend gewaltbereit gegenüberstehen."

Die anlässlich der AfD-Veranstaltung und der Proteste eingesetzten Beamten wollten "alles dafür tun, dass der Rechtsstaat an diesem Wochenende zur Geltung kommt", sagte der Minister. "Dazu gehört auch der Schutz von Versammlungsrechten und der körperlichen Unversehrtheit von Beteiligten." Poseck appellierte auch an die Beteiligten, friedlich zu bleiben und sich an Recht und Gesetz zu halten. "Es ist legitim, die AfD zu kritisieren und gegen sie zu demonstrieren. Aber die Ablehnung der AfD darf unter keinen Umständen mit gewalttätigen Mitteln ausgedrückt werden." Er erwarte auch von friedlichen Demonstranten, "dass sie sich sehr klar von der gewaltbereiten linken Szene distanzieren".

Das Universitätsklinikum teilte mit, dass am Wochenende in mehreren Bereichen mehr Personal eingeteilt sei, unter anderem in der Notaufnahme. Außerdem seien mehr Mitarbeiter in Bereitschaft. Im Vorfeld habe es einen Aufruf an langjährige Blutspender gegeben. 

Es gab Diskussionen um den Veranstaltungsort – warum?

Die Gießener Messehallen, in denen das Gründungstreffen stattfinden soll, gehören zur privaten Messe Gießen GmbH, die wiederum zum Firmenverbund der Dresdner Zwerenz Gruppe gehört. Ihre Entscheidung, an die AfD zu vermieten, war auch mit Blick auf die erwarteten massiven Gegenproteste auf Kritik gestoßen, etwa seitens des Gießener Hauseigentümer- und Einzelhandelszusammenschlusses BID Seltersweg. 

In einem offenen Brief hatte die Messe ihre Entscheidung verteidigt: Man müsse "alle zugelassenen Parteien gleichbehandeln, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung", so das Unternehmen auf seiner Homepage. "Gegenüber der grundgesetzlich gesicherten Versammlungsfreiheit tritt die unternehmerische Vertragsfreiheit zurück und das Unternehmen muss der AfD, wie anderen Parteien in der Vergangenheit, Räume im Messegelände zur Verfügung stellen."

Dem widerspricht der Gießener Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg von der Justus-Liebig-Universität. "Die Messe hätte sagen können: Wir machen das nicht", zitierte ihn etwa die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Das Unternehmen könne sich seine Vertragspartner selbst aussuchen. Im Sommer 2023 hatte in den Messehallen auch das Eritrea-Festival stattgefunden, an dessen Rand es zu gewaltsamen Ausschreitungen und einem Polizei-Großeinsatz in Gießen gekommen war.

Welche Verkehrseinschränkungen sind zu erwarten?

Die Stadt betont, dass Gießen am Wochenende nicht "abgeriegelt" werde, sondern zu Fuß, mit dem Rad und teils auch mit dem Bus erreichbar bleibe. Autofahrer dagegen müssen sich auf massive Einschränkungen einstellen - Absperrungen sind entlang der Demonstrations-Routen am Gießener Anlagenring und weiteren Versammlungsorten in der Innenstadt vorgesehen, sodass die Innenstadt in weiten Teilen nicht mit dem Auto befahrbar sein werde. Aktuelle Informationen hält die Stadt auf ihrer Homepage bereit.

Welche Folgen haben die Ereignisse für den Handel?

Dass das Gründungstreffen und die geplanten Gegenproteste ausgerechnet am eigentlich umsatzträchtigen ersten Advent-Wochenende in Gießen stattfinden, hatte beim Handel Kritik ausgelöst. Es sei ein "unfassbar schlecht gewählter Zeitpunkt", hatte Daniel Kaiser von der Industrie- und Handelskammer Gießen-Friedberg gesagt. In der Gießener Einkaufsstraße Seltersweg finden am Samstag zeitgleich mit den politischen Ereignissen auch der Wochen- und der Weihnachtsmarkt statt - wie viele Geschäfte und Buden öffnen, bleibt abzuwarten.

dpa

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