Das Koma war kein tiefes, schwarzes Loch. Eher ein quälender Traum, an den sie sich vage erinnert. Da waren die rasenden Kopfschmerzen. Und ein Gefühl von Panik. Etwas Schlimmes musste passiert sein, doch die Studentin Katinka Lindenblatt wusste nicht was. Sie spürte: Alle waren da. Ihre Eltern, ihre Schwester Melinda, ihr Zwillingsbruder Michel, ihre kleine Tochter Fee. "Wenn du mich hörst, dann drück meine Hand", sagte ihre Mutter. Sie hörte es, aber sie konnte ihre Hand nicht bewegen.
Bei einem Motorradunfall im Mai 2011 hatte Katinka Lindenblatt lebensgefährliche Verletzungen erlitten. Ihr linker Arm war von einem entgegenkommenden Trecker herausgerissen worden. Sie verlor sechs Liter Blut, ihr Hirn prallte gegen die Schädeldecke. Die Ärzte mussten sie reanimieren und die Blutungen in stundenlangen Not-OPs stoppen. Sie nähten den Arm wieder an, der ihr bis heute unerträgliche Schmerzen bereitet. Zehn Tage lag sie im Koma und erlitt zwei Schlaganfälle, die ihr Sprachzentrum zerstörten und ihre rechte Seite lähmten.
Ihre Familie versuchte mit alle Macht, Katinka Lindenblatt ins Leben zurückzuholen. Ihre Tochter Fee sang "Somewhere over the rainbow", Katinkas Mutter nahm das Lied mit einem Diktiergerät auf und spielte es auf der Intensivstation immer wieder ab. "Überlebenswichtig", glaubt Katinka Lindenblatt heute. Die Mutter brachte ihr Lieblings-Parfüm mit, massierte ihre Füße, sprach mit ihr.
Katinka musste alles neu lernen
"Du wirst wieder etwas klarer", notiert ihre Schwester Melinda im Juni 2011, als Katinka zum ersten Mal die Augen öffnet, drei Wochen nach der Katastrophe. Die junge Frau war komplett hilflos und musste alles neu lernen. Atmen, schlucken, laufen, sitzen, sprechen, schreiben. Von morgens um acht bis nachmittags um vier Therapien. Eine Quälerei.
Zweimal täglich trainierte sie mit einer Logopädin. "O", "I", "L". Ihr erstes Wort war "Michel", ihr erster Scherz: "Keine Arme, keine Kekse", als es ihr nicht gelang, an eine Süßigkeit heranzukommen. Beinahe wäre sie an einem Stück Schwarzbrot erstickt, das sie unbedingt essen wollte. Als sie ihr erstes Eis aß, beschmierte und bekleckerte sie sich, weil ihre rechte Gesichtshälfte noch gelähmt war. Ihr Vater machte Fotos, und sie lachten.
"Es klingt vielleicht merkwürdig, aber die Art meiner Familie, mit meinem Leiden umzugehen, hat mich gerettet", sagt Katinka. Liebevoll, aber unsentimental. Michel etwa machte eine Woche nach dem Unfall Witze über ihre Haare, die noch voller Blut und Dreck waren. "Du hattest ja schon immer so schöne Haare – wie ein Pferd", frotzelte er. Sie reagierte und langte nach ihm mit ihrem rechten Arm. Ein Wunder. Denn zu dem Zeitpunkt lag sie noch im Koma und ihre rechte Seite war durch den Schlaganfall gelähmt. "Es waren die schönsten Schläge, die sie mir jemals gegeben hat", sagt Michel.
Sie kämpft sich zurück ins Leben
Katinka Lindenblatt besitzt einen unbändigen Willen. Den Geburtstag ihres Vaters im August 2011 will sie zu Hause verbringen. Die Ärzte fürchten, sie sei zu schwach. Katinka feiert mit ihrer Familie zu Hause. Neun Monate nach dem Unfall will sie eine Klausur an der Fachhochschule mitschreiben, Mathe II. Die Ärzte fürchten, ihr Gedächtnis funktioniere nicht gut genug. Sie schreibt eine 1,7.
Nach fast einem Jahr im Krankenhaus und 23 Operationen wird Katinka Lindenblatt entlassen. Eine attraktive junge Frau mit strahlenden Augen und langen, braunen Haaren. Sie studiert Biotechnologie in Flensburg, zieht ihre Tochter groß, trifft Freunde. Ihr linker Arm liegt in einer Schiene. Sie werde ihn nie wieder spüren, hatten die Ärzte sie gewarnt. Am 1. Januar 2014 konnte sie mit ihrer linken Hand eine Faust machen. "Da müssen irgendwelche Nerven wieder zusammengewachsen sein", sagt sie. "Es ist unglaublich."
Mehr zum Thema finden Sie im aktuellen stern. Darin erzählen sechs Menschen, wie es ihnen erging, als sie aus dem Koma erwachten.