Die meisten Menschen kennen Pathologen aus Krimis im Fernsehen als diejenigen, die in einem dunklen Keller stehen und eine Leiche aufschneiden, um festzustellen, ob die Person vergiftet, erschlagen, oder erdrosselt wurde - oder an einem Herzinfarkt starb. Doch die Ergebnisse der Arbeit von Pathologen sind nicht nur für die Aufklärung einzelner Todesfälle wichtig. Sie sollen auch sicherstellen, dass ärztliche Behandlungen sorgfältig durchgeführt werden. Besonders, wenn es sich nicht um gerichtliche, sondern um klinische Obduktionen handelt.
Was dabei den Unterschied zwischen einer gerichtlichen und einer klinischen Obduktion ausmacht, ist genau ein Wort: Die gerichtliche muss, die klinische kann durchgeführt werden. Daher liegt die Rate der klinischen Obduktionen in Deutschland mit etwa drei Prozent extrem niedrig, wie Pathologen beklagen. Allerdings gibt es seit mehreren Jahren keine aktuellen Zahlen zur Häufigkeit von Obduktionen. Um neue Erkenntnisse über die Zahl der klinischen Obduktionen und ihre Bedeutung für Ärzte, Pathologen und Angehörige von Verstorbenen zu erhalten, beschäftigt sich aktuell ein deutsch-schweizerisches Forschungsprojekt mit dem Thema "Tod und toter Körper". Sie wollen Licht ins Dunkel der niedrigen Obduktionsrate und ihrer Auswirkungen bringen.
Woran es liegt, dass ausgerechnet in Deutschland so wenig seziert wird, weiß nämlich keiner so genau. Klar ist aber, dass in Ländern, in denen andere Gesetze für Obduktionen gelten, die Rate viel höher liegt - in Österreich beispielsweise bei 30 Prozent. Dort wird Angehörigen nur ein Widerspruchsrecht gegen eine Obduktion eingeräumt, in Deutschland müssen sie explizit ihre Einwilligung geben. Nur wenn der dringende Verdacht besteht, dass der Verstorbene an einer hoch ansteckenden und gefährlichen Krankheit wie Tuberkulose gelitten hat, kann das Gesundheitsamt eine Obduktion anordnen.
An der Charité wird bei jedem Verstorbenen gefragt
Die Vermutung liegt nahe, dass die zuletzt behandelnden Ärzte schlichtweg zu selten die Angehörigen fragen, ob eine Obduktion durchgeführt werden kann. Dies wird am Beispiel der Obduktionshäufigkeit der Charité in Berlin deutlich. Dort werden die Angehörigen jedes Verstorbenen gefragt, ob sie einer Obduktion zustimmen. Damit erreicht das Universitätsklinikum bei Erwachsenen eine Obduktionsrate von über 35 Prozent, bei Kindern sogar von über 80 Prozent.
In kleineren Kliniken auf dem Land und zu Hause sterben mehr Patienten als in Universitätskliniken. "Doch die Zahl der Obduktionen im Hausarztbereich und in kleineren Kliniken, die keine eigene Pathologie haben, ist ausgesprochen gering", erklärt Professor Manfred Dietel, Leiter des Institutes für Pathologie der Charité Berlin. Außerdem fänden es einige Ärzte auch nicht so wichtig, weil es Zeit koste und man sich mit den Angehörigen und dem Pathologen auseinander setzen müsse. Das drückt die deutschlandweite Obduktionsrate deutlich nach unten. Natürlich ist die Situation aber auch für die Angehörigen schwierig.
Sorgfalt bei der Leichenschau ist unerlässlich
Wie wichtig klinische Obduktionen bei anscheinend eindeutigen Todesfällen sind, zeigte sich bereits in einer Studie im Jahr 1997. Forscher der Universität Osnabrück fanden heraus, dass in Deutschland jährlich zwischen 1200 und 2400 Tötungsdelikte unentdeckt bleiben. Denn wenn keine Obduktion angeordnet wird, findet nur eine Leichenschau statt. "Diese rein äußerliche Untersuchung kann so oder so durchgeführt werden. Sie ist aber nicht dazu geeignet, für Kliniken relevante Daten zu liefern, oder Informationen über die Ursachen und Häufigkeit von Krankheiten oder Möglichkeiten zu ihrer Bekämpfung zu geben", sagt Professor Dietel.
Laut Bestimmung muss der Arzt bei dem Leichnam neben dem Tod seine Ursache und Art feststellen und auf dem Totenschein eintragen. Doch konkrete Vorgaben fehlen. So ist nicht bundeseinheitlich geregelt, ob die Leiche für die Leichenschau entkleidet werden muss. Eigentlich selbstverständlich, sollte man meinen. Bei einer Befragung von Leichenschauärzten fand der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bonn, Prof. Burkhard Madea, heraus, dass nur ein Prozent der Hausärzte die Leiche für die Untersuchung entkleidet.
Viele Verbrechen bleiben ohne Obduktion unentdeckt
Da die Leichenschauen mit unterschiedlicher Sorgfalt durchgeführt werden, diagnostizieren Pathologen bei einer anschließenden Obduktion nicht selten eine Todesursache fest, die von dem abweicht, was zuvor vom behandelnden Arzt auf dem Totenschein eingetragen wurde. So fanden die Forscher aus Osnabrück heraus, dass innerhalb von drei Jahren bei etwa 1100 vermeintlich natürlich Verstorbenen nach der Obduktion ein nicht-natürlicher Tod festgestellt wurde. Beispielsweise ist ein Fall bekannt, bei dem ein Säugling tot aufgefunden wurde und im Totenschein der plötzliche Kindstod als Todesursache vermerkt worden war. Die Polizei veranlasste dennoch eine Obduktion, in der festgestellt wurde, dass das Kind unter einer weichen Decke erstickt worden war. Dieses Tötungsdelikt wäre ohne die Obduktion wohl nie ans Tageslicht gekommen.
Klinische Obduktionen sind nicht nur wichtig, um nicht-natürliche Todesursachen aufzudecken. Sie sind unerlässlich, um die Qualitätsstandards in der Medizin zu erhalten. Denn sie geben Aufschluss über Therapieerfolge, das Ergebnis neuer Behandlungsmethoden und die Genauigkeit ärztlicher Diagnosen. Laut einer Stellungnahme der Bundesärztekammer gibt es in 15 Prozent aller Todesfälle eine Abweichung des Obduktionsbefundes von der Diagnose des zuletzt behandelnden Arztes.
"Diese Zahl bezieht sich allerdings im Wesentlichen auf Erkrankungen, die während der Obduktion auffallen, die der behandelnde Arzt aber nicht wissen konnte", sagt Professor Dietel, der als Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer einer der Verfasser der Stellungnahme war. Er erklärt, dass dort auch solche Fälle berücksichtigt würden, bei denen ein Patient beispielsweise mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert und dementsprechend behandelt wurde, sich bei der Obduktion des Verstorbenen aber herausstellte, dass er ebenfalls an Darmkrebs litt. Sollte jedoch ein Behandlungsfehler festgestellt werden, der eventuell zum Tod des Patienten geführt hat, kann der Arzt Selbstanzeige erstatten. "Dann wird unter anderem die Frage der groben Fahrlässigkeit geklärt", erklärt Dietel die rechtlichen Folgen.
Fehler verzerren die Todesursachenstatistik
Die mangelhaften Ergebnisse von Leichenschau- und Obduktionsbefunden haben noch weiter reichende Auswirkungen: Auf ihnen gründet sich die bundesweite Todesursachenstatistik. Diese Statistik beeinflusst gesundheits- und umweltpolitische Entscheidungen, so Professor Dietel weiter. Nur eine genaue durch klinische Obduktionen abgesicherte Todesursachenstatistik gäbe beispielsweise Informationen darüber, ob am Atomkraftwerk Krümmel nahe Hamburg tatsächlich mehr Leukämiefälle bei Kindern aufgetreten sind. Fehlerhafte Einträge im Totenschein verzerren diese Statistiken enorm.
Um etwas an der derzeitigen Situation zu ändern, sieht Pathologe Dietel nur einen Ausweg: Ärzte und Politiker müssen sich gemeinsam mit dem Thema auseinandersetzen und eine Lösung finden. Er plädiert für eine bundeseinheitliche, gesetzliche Regelung. Das Optimum wäre seiner Ansicht nach, klinische Obduktionen aller Verstorbenen vorzuschreiben. Doch die Gesetze, die die Obduktionen regeln, sind Länderrecht und das Thema ist politisch nicht besonders attraktiv. Denn Tote haben keine Lobby.