Wenn Gerichtsmediziner Robert Kolmaar (Ulrich Mühe) in der ZDF-Serie "Der letzte Zeuge" Leichen seziert oder Daniel Koch (Hannes Jaenicke) in "Post Mortem" bei RTL Schussverletzungen unter die Lupe nimmt, ist ihnen eine gebannte Zuschauerschar sicher. Im realen Leben machen die meisten Menschen einen Bogen um das Thema. Die Zahl der Obduktionen geht dramatisch zurück, kritisieren Rechtsmediziner, Pathologen und die Bundesärztekammer (BÄK). Das habe negative Auswirkungen auf den medizinischen Fortschritt, die Behandlungsqualität und - mit Blick auf unerkannte Tötungsdelikte - auch auf die Rechtssicherheit, warnen Experten.
Jede zweite Obduktion deckt einen Irrtum auf
"Nur noch acht bis zehn Prozent aller Verstorbenen werden bundesweit obduziert", sagt der renommierte Leiter der Rechtsmedizin an der Kölner Universität, Markus Rothschild. Die niedrige Sektionsrate verfälsche die Todesstatistik. "Man kann ohne Obduktion nicht genau sagen, woran jemand gestorben ist", sagt Rothschild, der auch im UN-Auftrag Massengräber in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo untersucht hatte. Sein Institut ermittelt die Todesursache vor allem im Auftrag von Polizei oder Staatsanwaltschaft, Versicherungen oder - in selteneren Fällen - im Auftrag von Angehörigen.
In 40 bis 60 Prozent stimme die auf dem Totenschein angegebene Todesursache nicht mit der später per Sektion ermittelten Ursache überein. "Das heißt, dass sich im Mittel 50 Prozent der Ärzte irren - und zwar nicht, weil sie unfähig sind, sondern weil man einem Menschen eben nicht an der Nasenspitze ansehen kann, woran er gestorben ist", betont Rothschild. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung verliefen Obduktionen stets "sehr pietätvoll, ruhig und ganz unblutig". Gerade bei älteren Verstorbenen werde oft vorschnell Herzversagen auf dem Totenschein angegeben. In der Folge rangierten Herz-Kreislauf-Versagen in der Todesstatistik zu weit oben.
Straftäter kommen davon
Die Bundesärztekammer legt den Finger schon seit einigen Jahren in die Wunde: Mit dem Verzicht auf Sektionen fehle ein wichtiges Instrument zur Überführung von Straftätern: 1200 bis 2400 Tötungsdelikte blieben dadurch einer Studie zufolge jedes Jahr in Deutschland unentdeckt. Vor allem aber habe eine geringe Obduktionsquote "weit reichende Folgen für die medizinische Qualität", führe zu einer hohen Fehlerzahl und verschlechtere die Aus- und Weiterbildung, da die Fähigkeit zur Bewertung schwerer und komplexer Krankheiten sinke, heißt es in einem BÄK-Papier.
"Für die Patienten heißt das, dass sie sich auf schlechtere Standards bei ihrer Behandlung einstellen müssen", erklärt Robert Jütte, Leiter des Instituts der Medizingeschichte der Robert Bosch Stiftung. Er hat im Jahr 2005 mit acht weiteren Experten die "Stellungnahme zur Autopsie" für die BÄK verfasst. Besonders treffe das operative Fächer wie Chirurgie und Gynäkologie, sagt der.
"Die Toten haben keine Lobby"
Gründe für den Rückgang der Obduktionen sind Kostendruck, Sparzwang, zeitlicher Aufwand und die Fehleinschätzung von Ärzten, der Fall sei auch ohne Sektion klar. "Im Wesentlichen haben wir es mit einem ökonomischen Problem zu tun", sagt Jütte. Außerdem sie die Rechtslage unklar: Nur Hamburg und Berlin haben eigene Sektionsgesetze, sonst verfährt jedes Bundesland unterschiedlich. Es gebe zu viele Regelungslücken, bundesweit greife der Gesetzgeber nur über den Infektionsschutz oder das Strafrecht ein. "Die Toten haben eben keine Lobby. Bei Themen wie Patientenverfügung, Sterbehilfe oder Autopsie tut sich der Gesetzgeber schwer, obwohl der Gesellschaft diese Themen auf den Nägeln brennen."
Der Pathologe Peter Dienes sieht auch in der Einstellung der Menschen einen Grund für die niedrigen Obduktionszahlen: Sie wollen mit dem Thema Tod möglichst nicht konfrontiert werden. "Ärzte haben auch oft zu wenig Zeit, mit den Angehörigen in Ruhe über das Thema zu sprechen." Wenn aber ein Gespräch stattgefunden habe, gebe es fast nie Einwände gegen die fachgerechte Öffnung und Untersuchung der Leiche, sagt der Direktor des Kölner Uni-Instituts für Pathologie.
"In der Industrie leisten wir uns eine Fehlerquote von fast null Prozent bei der Produktion", sagt Jütte. "Bei der Medizin machen wir aber keine vernünftige Qualitätssicherung." Komme es nicht zu einem Umsteuern, so lautet die Prognose des Experten: "Wir werden als Standort für Spitzenmedizin weltweit stark an Ansehen verlieren."