Die USA sind ein Land, in dem man schnell das Laufen verlernt. Gehwege sind außerhalb der großen Städte eine totale Ausnahme. Wer zu Fuß durch die Straßen schlendert, ist verdächtig und wird schnell für einen Einbrecher gehalten. Nicht selten wird man von der Polizei kontrolliert und befragt. Und bei meinem Fahrkurs für den New Yorker Führerschein sagte der Fahrlehrer gleich nach fünf Minuten "Kill the pedestrian!" - Töte die Fußgänger. Er meinte es nicht als Scherz.
In Hamburg bin ich jeden Tag mit dem Fahrrad in die Redaktion gefahren. Das war mein kleine Sportrunde. Seit wir in White Plains, einem Vorort von New York wohnen, hole ich mein Fahrrad nur noch selten hervor. Radwege? Fehlanzeige. Wage ich mich doch mal auf die Straße, werde ich ständig angehupt. Das nennt sich "friendly honking" (freundliches Hupen) und ist die nette Umschreibung: "Hau ab mit deinem Drahtesel, die Straße gehört mir." Autos sind für Amerikaner unerlässliche Zeichen ihres Wohlstandes. Größer, breiter, besser. Nur wer sich keins leisten kann, fährt Rad. Mein Fahrlehrer hatte auch dazu eine sehr genau Meinung: "Kill the bikers." Und auch diesmal stimmten ihm alle im Kurs fröhlich zu.
Es gibt für fast alles Drive Inns. Banken. Coffee Shops. Sogar Reinigungen und edle Restaurants liefern an die Autotür. Nur keinen Schritt gehen. So ist für viele Bewegung zur Bedrohung geworden. Vor kurzem war ich mit einer Touristengruppe unterwegs. Mit dabei ein kleiner Junge, etwa acht Jahre alt und mit extremen Übergewicht. Auf unserem Weg lag eine kleine Treppe. Zwanzig Stufen. Nach fünf stand der Knirps schon hächelnd und nach Luft schnappend am Rand. Nach zehn weinte er: "Papa ich schaffe das nicht." Weiter kam er nicht.
Diabetes, Bluthochdruck und Arthrose sind in den USA längst Kinderkrankheiten. Zum ersten Mal seit vielen Generationen sinkt hier die Lebenserwartung der heute Geborenen.
Was das alles mit Deutschland zu tun hat? Es ist ein Ausblick in unsere Zukunft. Denn wir sind auf einem ähnlich schlechten Weg. Vielleicht nicht ganz so dramatisch. Aber auch bei uns wird geschont, geruht und ausgesessen. Die Zahl der deutlich Übergewichtigen steigt immer weiter. Kinder, Erwachsene, Rentner - quer durch alle Altersklassen. Eigentlich weiß es jeder: Wir sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. Viele Kinder üben nie eine Sportart außerhalb des Schulsports aus. So lernen sie ihren Körper nicht richtig kennen. Wissen nicht, wie man sich bewegt - und wie gut eine Laufrunde tun kann.
Das bleibt nicht ohne Folgen. Mir erzählte mal ein Sportwissenschaftler die Geschichte einer 30-jährigen Frau, die mit Übergewicht in seine Sprechstunde kam. Er verordnete ihr ein Bewegungsprogramm. Als sie nach sechs Wochen zur Kontrolluntersuchung kam, hatte sich ihre Kondition überhaupt nicht verbessert. Auf Nachfrage berichtete sie dann: "Ich bin ja losgelaufen, aber dann spürte ich plötzlich mein Herz schlagen und da bin ich lieber stehen geblieben. So ein Herzschlag ist doch sicher ungesund?"
Bewegung als Gefahr. Schuld daran sind sicher auch die Jahre, in denen Mediziner glaubten, Schonung sei das beste Heilmittel. Rückenschmerzen, Kreislaufprobleme, Asthma - alles wurde so behandelt. Das haben noch viel im Kopf. Obwohl inzwischen eine dramatische Umkehr stattgefunden hat. Bewegung ist ein Heilmittel, darüber sind sich die Wissenschaftler und Experten längst einig. Herzinfarkt, Bandscheibenvorfälle, Rheuma - gegen diese Krankheiten wird heute auch Bewegung verordnet. Und wer an Krebs erkrankt, der hat eine größere Überlebenschance, wenn er vorher sportlich war.
Alles gute Gründe, endlich die Turnschuhe anzuziehen. Ich kenne noch viele mehr. Es geht nicht darum, Rekorde zu brechen und Bäume auszureißen. Es soll Spaß machen. Denn das ist ein wichtiger Garant dafür, dass man auch dabei bleibt. Eine Treppe ist keine Gefahr. Sondern eine Chance, kleine Trainingseinheiten in den Tag einzubauen. Und natürlich muss das Herz auch mal schneller schlagen. Man darf es mal pochen spüren. Schwitzen ist etwas Tolles.
Wer zwei bis drei Mal pro Woche für 15 Minuten seinen Puls spürbar steigert, hat schon viel für sich getan. Gesundheitsdaten von 400 000 Menschen, die in einer umfangreichen Studie erhoben wurden, belegen, dass sich das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, so um erstaunliche 20 Prozent verringert. Und sich gleichzeitig das Leben statistisch um mindestens drei Jahre verlängert.
Gesunde Jahre vor allem, wie der Mediziner James Fries von der Stanford University in Kalifornien nachwies. Dazu untersuchte er 538 Mitglieder eines Lauf-Clubs sowie 423 träge Menschen, alle 50 Jahre und älter. Am Ende klagten die Läufer viel seltener über Gebrechen - körperliche Verfallserscheinungen traten bei ihnen im Durchschnitt 16 Jahre später auf als bei den trägen Vergleichspersonen. Und die Läufer lebten auch deutlich länger. Nach 21 Jahren waren von den Läufern nur 15 Prozent verstorben - von der anderen Gruppe lebten zu diesem Zeitpunkt schon 34 Prozent nicht mehr.
Spüren Sie jetzt auch diese Unruhe? Diese Lust, sich mal wieder zu bewegen? Ja? Dann sollten Sie jetzt aufstehen und einen kleinen Spaziergang machen. In Deutschland gibt es noch Gehwege. Es lohnt sich.