Erfahrungsbericht "Wenn Mama das tut, bringe ich mich um"

Jana sollte nichts davon ahnen. Aber ihre Mutter hätte wissen müssen, dass die damals Zehnjährige so ziemlich alles mitbekam, was zu Hause vor sich ging. Unter anderem, dass ihre Mutter sich mit Selbstmordgedanken trug.

Depression wird von Gesunden so wenig ernst genommen wie ein Frühjahrsschnupfen

Jana sollte nichts davon ahnen. Aber ihre Mutter hätte wissen müssen, dass die damals Zehnjährige so ziemlich alles mitbekam, was zu Hause vor sich ging. Und so blieb dem Mädchen auch nicht verborgen, dass die Mutter sich mit Selbstmordgedanken trug. Die Tabletten dafür hatte sie schon im Schrank. Natürlich schaute Jana sofort nach, welche Pillen das hätten sein können. »Aber da waren so viele Tabletten, die Mama jeden Tag nehmen musste«, sagt Jana. »Ich wusste nicht, welche die gefährlichen sind.« Da fasste die Schülerin aus Paderborn einen verzweifelten Beschluss: »Wenn meine Mutter das tut, dann will ich mich auch umbringen.«

Zum Glück kam es nicht so weit. Als endlich erkannt wurde, dass Janas Mutter, die 40-jährige Andrea Ehl, an schwerer Depression litt, fand sie nicht nur gute Ärzte, auch ihr Lebensgefährte, ihre Mutter, ihre Freundinnen und ihre Tochter standen ihr in dieser qualvollen Zeit geduldig und liebevoll bei. All das ist keineswegs selbstverständlich.

Beinahe zwei Jahre lang lastete Düsternis auf Andrea Ehls Seele. Sie nahm ihr die Freude am Leben, die Hoffnung, je wieder froh zu sein, und fast all ihren Mut. Doch wie erklärt jemand, der in dieser Leere gefangen ist, seinen Zustand den Mitmenschen? Von den meisten Gesunden wird Depression so wenig ernst genommen wie ein Frühjahrsschnupfen. Dabei ist sie nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation die mit Abstand am schwersten belastende Krankheit vor allen anderen körperlichen und psychischen Leiden. Sie wird vielfach unterschätzt, weil sie so schwer zu fassen ist: Man kann sie nicht sehen wie eine Schnittwunde oder einen offenen Bruch. Man kann ihre Symptome nicht messen wie den Blutzuckerspiegel. Wer die Anzeichen nicht kennt, kann sie anfangs mit den Phasen schlechter Laune verwechseln, die ja jeder mal hat.

Kern der Krankheit ist eine Störung im Kontrollsystem für Stresshormone

Doch Depression ist nicht einfach eine gedrückte Stimmung, sondern die völlige Unfähigkeit, Freude zu empfinden - verbunden mit starker Antriebslosigkeit, mit Schlafstörungen, Schuldgefühlen und extremen Ängsten. Davon befallene Menschen können sich so verändern, dass sie die einfachsten Dinge nicht mehr bewältigen. Alltägliche Verrichtungen versetzen Männer und Frauen, die gewohnt sind, ihr Leben zu meistern, plötzlich in tiefste Angst. Sehr eindringlich beschreibt der amerikanische Autor Andrew Solomon diesen Zustand in seinem kürzlich erschienenen Buch »Saturns Schatten«: Wie er losheulte, nur weil die Seife in der Dusche aufgebraucht war. Wie ihn der Umstand, nicht nur eine, sondern zwei Socken und zwei Schuhe anziehen zu müssen, derart überforderte, dass er am liebsten wieder ins Bett gegangen wäre. Wie er, nur weil sein Hund den Raum verließ, ernsthaft fürchtete, das Tier könne ihn nicht leiden.

Kern der Krankheit ist eine Störung im Kontrollsystem für Stresshormone, die schließlich den Körper überschwemmen und die Gefühle verändern. Auslöser sind oft extreme Stressphasen wie der Verlust des Jobs oder des Partners, schwere Operationen oder die Geburt eines Kindes. Auch traumatische Erlebnisse können schwerste Depressionen zur Folge haben. Experten gehen davon aus, dass etwa jeder Zehnte, der ein brutales Verbrechen, einen Krieg oder einen Terroranschlag wie den vom 11. September auf das World Trade Center persönlich erlebt hat, später erkranken wird.

Während bei gesunden Menschen die Seele nach belastenden Erlebnissen von selbst wieder ins Lot kommt, bleiben Depressive, offenbar durch eine Verkettung mehrerer Ursachen, auf Dauer im Jammertal. Für Wochen, Monate oder sogar noch weitaus länger. In den Industriestaaten nimmt die Erkrankung seit Jahren zu, und sie trifft immer mehr jüngere Menschen. Allein in den vergangenen zehn Jahren stieg die Quote der 20-Jährigen mit der Seelenkrankheit um ein Drittel an.

Etwa 15 Prozent der schwer Depressiven bringen sich um

Vier Millionen Menschen leiden nach Expertenschätzungen in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Depression, Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer. Wie gefährlich es ist, wenn sich der bleierne Mantel um die Seele legt, zeigt ein Blick in die Statistik: Etwa 15 Prozent der schwer Depressiven bringen sich um.

Andrea Ehl stand kurz davor. Wer wäre schuld gewesen, wenn sie tatsächlich Schluss gemacht hätte? Sie selbst, weil sie sich nicht zusammenreißen konnte, obwohl sie doch Verantwortung für ihre Tochter hat? Der Psychiater, der es unterlassen hatte, sie in eine Klinik einzuweisen? Oder ihre Familie und ihre Freunde, die vielleicht doch nicht genug auf sie aufgepasst haben? Angehörige stehen den diffusen Qualen meist hilflos gegenüber und fühlen sich doch verantwortlich. Wie hilft man jemandem, der körperlich ganz gesund wirkt und trotzdem nicht einmal mehr die Kraft hat, morgens aufzustehen? Selbst Ärzten fehlt oft das nötige Wissen, um ihre Patienten aus den Fängen der Depression zu befreien.

Dabei kann die richtige Unterstützung Leben retten. Als auf der schwedischen Insel Gotland Mediziner gezielt fortgebildet wurden, sank dort die Zahl der depressiven Selbstmörder um ein Drittel. Aufgeklärt wird neuerdings auch in Deutschland: Seit Anfang des Jahres sensibilisiert ein vom Bundesforschungsministerium unterstütztes »Kompetenznetz Depression« in Nürnberg mit Plakaten, Broschüren und Kinospots die Öffentlichkeit für das Thema. Gleichzeitig werden Ärzte, Lehrer und Pfarrer geschult. Das kürzlich veröffentlichte erste Zwischenergebnis des Forschungsprojekts ist ermutigend: Von Januar bis Juni wurden in Nürnberg 29 Prozent weniger Selbstmordversuche gezählt als im ersten Halbjahr 2000, die Zahl der Suizide sank bis September sogar um 40 Prozent.

Viele Mediziner unterschätzen schlicht die Bedeutung der Krankheit

Mehr Aufklärung ist lange überfällig. Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie belegt, dass Betroffene nur mit Glück an kompetente Helfer geraten: Jeder zehnte Hausarzt-Patient leidet an einer behandlungsbedürftigen Depression - aber nur bei der Hälfte stellen die Ärzte das überhaupt fest. Vor allem die Seelenleiden von Kindern und Jugendlichen sowie alten Menschen werden oft verkannt. »Das liegt zum Teil daran, dass die Patienten mit körperlichen Beschwerden wie Rückenschmerzen, Tinnitus, Verstopfung oder Kopfschmerzen in die Praxen kommen und nichts von ihren psychischen Problemen erzählen«, sagt Ulrich Hegerl, Professor an der Universität München und Sprecher des »Kompetenznetzes Depression«. Hinzu komme, dass Depressionsbehandlungen zeitaufwändig seien und Hausärzten wenig einbrächten. Abgesehen davon unterschätzten viele Mediziner schlicht die Bedeutung der Krankheit. »Jedem Bluthochdruck wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der oft lebensgefährlichen Depression, der Volkskrankheit Nummer eins«, sagt Hegerl.

Auch Andrea Ehl, von Beruf Krankenschwester, verbrachte etliche Stunden bei ihrem Hausarzt, beim Gynäkologen, beim Orthopäden, sogar bei einem Psychologen. »Erschöpfung« lautete die Diagnose, die ihr nicht weiterhalf. Bis ihr die Krankenkasse die empfohlene Psychotherapie bewilligte, vergingen drei Monate. Ihre Kollegen vermuteten, dass sie wegen ihrer Nachtschichten so schlecht drauf sei, oder sie tippten auf Beziehungsstress. Erst nach mehr als einem halben Jahr fand Andrea Ehl einen Psychiater, der die Ursache ihrer Ängste und ihrer Traurigkeit erkannte.

Angehörige von Depressiven werden fürchterlich allein gelassen

Wenn sich schon Ärzte mit der Diagnose schwer tun, wie soll dann der Patient erkennen, ob er depressiv ist? Vielleicht ist es ja einfach eine schlechte Phase, ein Durchhänger, das Klimakterium. Seelische Krankheiten sind schambesetzt. Noch immer ist es außergewöhnlich, wenn Prominente offen mit ihrer Depression umgehen, wie der niederländische Prinz Claus, der Backstreet Boy A.J. McLean oder Tipper Gore, die Frau des gescheiterten US-Präsidentschaftskandidaten, die einst nach einem Unfall ihres Sohns erkrankt war. Es erfordert Mut, sich einzugestehen, dass man depressiv ist. Und noch mehr Mut, es anderen zu sagen.

Familie, Freunde und Kollegen können oft kaum nachvollziehen, was in dem Kranken vorgeht. »Nimm doch mal Urlaub«, »Reiß dich zusammen« - oft erteilte Ratschläge, wohlgemeint und hilflos. In der Tat verschlimmern sie das Leiden eher. Einige Hausmittel wie Licht und Bewegung können die Qualen mitunter tatsächlich lindern, im Ernstfall jedoch nicht annähernd die Betreuung durch Fachleute ersetzen. Aber woher soll man es auch besser wissen? Obwohl kaum eine Krankheit die Familie derart mitbelastet wie Depressionen, stehen Partner und Kinder meist mit ihren Sorgen allein da. Nur drei Prozent der Hausärzte behandeln Angehörige mit. »Depressionen führen oft zu bleibenden Veränderungen in der Familie, und zwar für alle Betroffenen«, sagt Professor Hans-Ulrich Wittchen vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. »Damit sind Angehörige fürchterlich allein gelassen.« Gerade für die Schwächsten hat das schlimme Folgen: Nach Studien weisen Kinder von depressiven Müttern häufig selbst psychische Probleme, aber auch Sprach- und Entwickungsstörungen auf.

Depressive und ihre Angehörigen brauchen professionelle Hilfe. Doch die zu finden ist nicht einfach. Bei Psychologen und Psychiatern müssen Betroffene oft Wochen oder Monate auf einen Termin warten. Die sozialpsychiatrischen Dienste der Gesundheitsämter, die auch in akuten Krisen weiterhelfen sollen, sind längst nicht überall nachts oder an Wochenenden erreichbar. Und in psychiatrische Kliniken mag mancher nicht gehen. Bleiben die normalen medizinischen Notdienste - und die Hoffnung, dort auf einen Arzt zu treffen, der die Krankheit nicht verkennt.

»Je früher die Behandlung beginnt, desto geringer ist die Gefahr einer chronischen Depression.«

Wer zwei Wochen lang ohne besonderen Anlass, wie etwa einen Trauerfall, die Symptome einer Depression zeige, solle einen Arzt oder Therapeuten aufsuchen, empfiehlt Wittchen. »Je früher die Behandlung beginnt, desto geringer ist die Gefahr einer chronischen Depression.« Mehr als 90 Prozent der Erkrankten könnten heute erfolgreich behandelt werden. Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft der Betroffenen, ihre Vorurteile abzubauen, etwa die Scheu vor dem »Seelenklempner« - der mit einer Verhaltenstherapie nachweislich helfen kann. Und die Angst vor Psycho-Pillen. Bei der Umfrage im Auftrag des Kompetenznetzes gaben 71 Prozent der Befragten an, dass sie bei den einschlägigen Arzneien starke Nebenwirkungen fürchten; 80 Prozent glaubten, dass die Pillen abhängig machen - beides ist, so pauschal zumindest, falsch.

Antidepressiva sind neben der Psychotherapie das wirksamste Mittel. Die Medikamente, die heute gegen Depressionen eingesetzt werden, bringen den Stoffwechsel im Kopf wieder ins Lot, indem sie die Wirkung der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin zwischen den Nervenenden (im so genannten synaptischen Spalt) im Gehirn verstärken. Leider wirkt nicht jedes Mittel bei jedem Patienten, deswegen sind verschiedene

Antidepressiva auf dem Markt.

Regeln für Angehörige - Vorwürfe sind fehl am Platz

Professor Hans-Ulrich Wittchen vom Max-Planck-Institut in München hat Verhaltensregeln entwickelt, die Angehörigen im Umgang mit einem Erkrankten helfen sollen:

- Kranke brauchen das Gefühl, dass ihr Leiden, ihre Gefühle und Probleme akzeptiert werden.

- Ablenkung ist wichtig. Man sollte Depressive zu kleinen Unternehmungen ermutigen, aber nicht zu viel von ihnen fordern, denn sie sind kaum belastbar.

- Depressive brauchen so viel Unterstützung und Geduld wie möglich; die Angehörigen sollten es vermeiden, ihnen die eigene Traurigkeit und Hilflosigkeit angesichts des Leidens allzu oft zu zeigen.

- Vorwürfe sind fehl am Platz. Die Krankheit hat Schuld, nicht der Depressive.

- Auch Kinder sollten über die Krankheit aufgeklärt werden. Selbst kleine Kinder können es schon verstehen, wenn man ihnen sagt, dass das veränderte Verhalten von Vater oder Mutter Folge einer Krankheit ist.

- Selbstmordandeutungen sind unbedingt ernst zu nehmen, der Arzt oder Therapeut muss informiert werden - wenn möglich durch den Kranken, notfalls aber auch durch Angehörige.

Von Werner Hinzpeter und Claudia Kempf (Fotos)

Mitarbeit: Anika Geisler

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