Kolumne Ärztliche Kunst: Sinn finden, wo keiner ist

Sind Sie einer von denen, die Münzen am Automaten reiben, damit der sie schluckt? Dann haben Sie ja fast schon das Zeug, ein richtig guter Mediziner zu sein, sagt Dr. med. Eckart von Hirschhausen.

Die Münze ist schon zweimal durch den Schlitz gerauscht. Was machen Sie, damit sie beim nächsten Wurf garantiert hängen bleibt? Reiben? Sie sind in bester Gesellschaft. Nach extensiven persönlichen Umfragen kommt Reiben vor den Optionen: draufspucken, gegen den Automaten treten und mit bestem Gewissen schwarzfahren. Männer antworten signifikant öfter mit: "Ich hau dagegen!", "Ich übergeb das meinem Anwalt!" und: "Ich hole meine Flex und schau selber nach." Frauen nehmen viel eher eine neue Münze. Und Frauen leben sieben Jahre länger. Gibt es da einen Zusammenhang? In der Medizin geht es immer darum, Zusammenhänge zu erkennen. Zwischen Virus und Erkältung, Echinacin und Heilung, Joggen und Lebenserwartung. Wie das Beispiel der Münze zeigt, ist die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, uns Menschen aber nicht in die Wiege gelegt. Eher das Gegenteil: Sinn zu finden, wo keiner ist.

Warum könnte Münzreiben einen Unterschied machen? Die einen glauben, die Münze wird warm, bleibt dadurch eher im Automaten. Wärme dehnt die Dinge aus. Ist es deswegen nicht verwunderlich, wie viele Menschen in die Sauna gehen, um zu schrumpfen? Die ärgsten Feinde der Wärme-Rubbler sind die aerodynamischen Rubbler. Sie rubbeln die Münze windschnittiger, um das Fallverhalten der Münze zu optimieren. Eine dritte Fraktion sind die Elektrostatiker. Die sind überzeugt, durch das Rubbeln lade sich die Münze auf. Unerschrocken fasst diese Fraktion anschließend den Automaten wieder an. Eigentlich müssten sie einen gewischt bekommen.

Es macht keinen Unterschied

Zum Glück ist ihre Theorie aber Quatsch. Es geht ja nicht um Physik, sondern um den Trost. Wir brauchen eine Theorie, die uns darüber hinwegtröstet, dass es dem Automaten egal ist, warum wir gerubbelt haben. Es ist ihm sogar egal, ob wir überhaupt gerubbelt haben. Es macht keinen Unterschied, hat mir ein Automatenhersteller hoch und heilig versprochen. Warum glauben wir dennoch so felsenfest daran? Weil wir so oft schon erlebt haben, dass es wirkt. Zwar haben wir genauso oft erlebt, dass es nicht wirkt, aber das muss man sich ja nicht merken. So funktioniert selektive Wahrnehmung. Wer aber 100 Münzen nimmt und davon die eine Hälfte reibt, die andere nicht, wird enttäuscht feststellen: kein Unterschied.

Den großen Fragen des Lebens kommt Statistik näher als der irrtümlicherweise so genannte gesunde Menschenverstand. Jede Mutter weiß, Erkältungen kommen durch kalte Füße. Stimmt das? 50 Studenten mit nassen Socken, 50 mit warmen Füßen. Alle bekommen die gleiche Menge Virus ab, beide Gruppen erkälten sich zu gleichen Teilen. Ergebnis: Millionen Mütter können irren. Eine Hasenpfote bringt Glück? Die Evidenz hinkt: Der Hase hatte vier davon, und offensichtlich hat es ihm kein Glück gebracht.

Tote kommen nicht in die Sprechstunde

Ärzte glauben an Studien - und an sich. Jeder Arzt denkt, er ist ein guter. Weil er nur die Münzen zählt, die hängen bleiben, sprich: die Patienten, die wiederkommen. Interessanter sind die, die wegbleiben: Entweder war er so gut, dass sie sofort gesundeten, oder er hat etwas übersehen, und sie kommen nicht zurück, weil sie gestorben sind. Weil er aber immer nur die zufriedenen wiedertrifft, überschätzt er seinen Wert systematisch.

Gesünder als der Menschenverstand ist die Skepsis. An einem Berliner Automaten stand als Instruktion: "Zweite Münze erst nach der ersten einwerfen." Und ein Punker schrieb mit dem Edding daneben: "Hab es andersrum probiert, es geht auch!" Das ist gesunde Skepsis. Und auch nicht die ganze Wahrheit. Eine Frau sagte einmal wörtlich: "Ich lasse die Münze einfach langsamer fallen." Das ist die andere Seite. Für Männer ist die Schwerkraft eine Konstante. Frauen können sie aufheben. Und uns erinnern an die Poesie, den immerwährenden Rest Unerklärtes, jenseits von Statistik und Erdenkraft. Gesundheit!

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Dr. med. Eckart von Hirschhausen

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