Medizin Muskeln & Gelenke

Das Gerüst unseres Körpers ist den Anforderungen des modernen Alltags nicht recht gewachsen, am schlechtesten vertragen ihn die Scharniere in Rücken und Beinen. Wer sie auf Dauer gesund halten will, muss auf den stärkeren Part des Bewegungsapparats setzen - und reichlich stützende Muskeln aufbauen

Der Mensch hat Autos entwickelt, deren Motoren Benzin in Vortrieb verwandeln. Luftkissenboote, die über das Wasser zu schweben scheinen. Und Jets, die schneller fliegen als der Schall. Aber das genialste Fortbewegungsmittel hat uns die Natur beschert: unsere Muskulatur. Weich, nass, dehnbar - dank ihrer Glibber-Power können wir rennen und stehen. Ziehen und drücken. Hüpfen, krabbeln, klettern, springen. Zupacken und streicheln. Sie verleiht uns die Kraft, tonnenschwere Lasten zu bewegen - und ist doch so fein justierbar, dass wir Herzkranzgefäße operieren können.

Die Powerpakete unseres Körpers werden mit Hilfe von Enzymen angetrieben. Sie gewinnen Treibstoff aus Nahrung und wandeln diesen in mechanische Energie um - in Kraft. Vernetzt sind die molekularen Motoren mit einem komplizierten Apparat: Sehnen übertragen die Muskelkräfte auf die Knochen. Gelenke erlauben die Bewegung in der gewünschten Bahn, Bänder wiederum halten die empfindlichen Gelenke im Lot. Jede Bewegung ist ein fein abgestimmtes Zusammenspiel von Nervenimpulsen und Billionen Zellreaktionen.

Anders als die Muskulatur ist unser Knochen- und Gelenkgerüst nicht allzu robust. Vor allem die Wirbelsäule und das komplizierte Kniegelenk taugen nur bedingt für dynamische Bewegungen und die damit verbundenen Belastungen durch Stoßkraft und Gewicht. Ganz zu schweigen von den modernen Lebensgewohnheiten. Joggen, Squashen und Skifahren traktieren unsere Scharniere. Schwere Fettwesten lasten auf den Knochen. Und in schicken Bürostühlen drücken wir unsere Bandscheiben zusammen wie in Schraubstöcken.

Und das auch deshalb, weil wir, verdammt noch mal, zu faul sind. Würden wir mehr Gewichte stemmen, hätten wir kräftigere Muskeln. Muskeln, die die Gelenke in der Wirbelsäule, der Schulter, dem Knie entlasten würden.

Gerade wenn unser Gerüst schon ächzt und knirscht, schonen wir es gern. Und setzen damit den Teufelskreis erst so richtig in Gang. Denn wer sich dauerhaft nicht bewegt, tut seinem Körper nicht etwa Gutes - er foltert ihn. Wenn unsere Gelenke nicht gebeugt und gestreckt werden, versteifen sie. Wenn unsere Muskeln nicht gegen Widerstände arbeiten dürfen, verkümmern sie. Selbst Knochen schwinden. Wer rastet, der rostet: Das ist wirklich so.

Leider ist Einsicht nur der erste Schritt zur Besserung - auf den dann meist kein zweiter folgt. Der innere Schweinehund ist vielen eine reißende Bestie, die bei jedem Schritt wütend brüllt. Also lehnen wir uns lieber zu Hause zurück und bewundern vom Sofa aus die besten Athleten der Welt. Ahnen, was aus uns hätte werden können. Deutschlands stärkster Mann, ein bayerischer Hüne namens Heinz Ollesch, zieht einen Airbus 321-100, 45 Tonnen schwer, 20 Meter weit. Natürlich meistert einen solchen Kraftakt nur ein Hochspezialisierter, der seine außergewöhnlichen Erbanlagen ausreizt. Aber auch für die Standardmodelle des Homo sapiens ist es sinnvoll, den Körper ein Leben lang zu trainieren - schließlich geht es um das Beste, das wir haben: unsere Gesundheit.

Wer den Ellenbogen beugt und seine Faust zur Schulter führt, entdeckt am Oberarm einen mehr oder weniger ausgeprägten Hügel. Die alten Griechen sahen darin eine Maus, mys, die Römer machten aus der Maus ein Mäuschen: musculus.

Von diesen Kraftmaschinen haben wir drei verschiedene Arten. Da sind zum einen die glatten, "unwillkürlichen" Muskeln, die sich bei Bedarf quasi automatisch in Bewegung setzen - etwa im Verdauungstrakt. Dann die quer gestreifte "willkürliche" Muskulatur, die wir mit unserem Willen mehr oder weniger geschickt beherrschen, beispielsweise an Armen und Beinen. Als Sonderfall gilt das quer gestreifte, aber "unwillkürliche" Herz, denn das schlägt immer. Die trainiertesten Sportler schaffen eine Leistung von 200 Watt pro Kilogramm Muskelmasse. Ein Mann von 80 Kilo und mit 40 Prozent Muskeln müsste somit rein rechnerisch auf 6400 Watt kommen - das wären 8,7 Pferdestärken. Aber dazu reicht weder die Sauerstoff- noch die Energieversorgung der Muskeln aus. Immerhin leisten die stärksten Männer für ganz kurze Zeit mächtige 4500 Watt, rund sechs PS. Über einen langen Zeitraum kann ein Ausnahmesportler wie der Radfahrer Jan Ullrich 450 Watt treten, mehr als eine halbe PS.

Solche Topathleten haben nicht mehr Muskeln als jeder andere auch. Ihre Kraftspender unterscheiden sich von unseren allerdings im Querschnitt der Muskelfasern und damit sichtbar in der Dicke. Ebenso im Aufbau der einzelnen Fasern und in der Art ihrer Zusammensetzung.

Eine Formation wie der Bizeps besteht aus rund einer halben Million Muskelfasern - bis zu 15 Zentimeter langen Zellen, die etwa ein Zehntel Millimeter dick werden. Sie sind umgeben von Blutbahnen und Nerven. Die gesamte Struktur ist umhüllt von so genannten Muskelfaszien - derben Bindegewebsschichten, die dem Konstrukt Stabilität und zugleich Elastizität verleihen.

Das Wunder der Bewegung erschließt sich allerdings erst, wenn man noch genauer hinschaut: in die einzelne Muskelzelle. Sie teilt sich auf in mehrere hundert "Myofibrillen". Das sind kettengleiche Gebilde aus Tausenden von Gliedern, in denen wiederum je zwei Proteinstränge nebeneinander liegen: das Myosin und das Aktin. Diese Fäden sind wie ein Klettverschluss ineinander verhakt. Auf einen Nervenimpuls hin lösen sich die "Köpfchen" des Myosins und klinken sich an einer weiter entfernten Stelle des Aktins wieder ein. Weil alle Kontaktpunkte den Befehl gleichzeitig in derselben Richtung ausführen, zieht sich der Muskel zusammen oder dehnt sich - und erzeugt so Bewegung. Wenn der Muskel sich nicht rühren, sondern nur statische Kraft aufbringen soll (etwa einen Eimer Wasser halten), docken die "Köpfchen" immer wieder am selben Punkt an. Wie schnell die Kontraktionen ablaufen, ist eine Frage des Muskeltyps. Die meisten Menschen haben etwa zur Hälfte schnell zuckende Muskelfasern - und zur anderen Hälfte langsam zuckende. Bei Spitzenathleten hingegen überwiegt oft ein Muskeltyp.

"Ein Sportler wie Miroslav Klose, der auffällig explosiv ist und hoch springt, dürfte mit einiger Sicherheit besonders viele schnell zuckende Muskelfasern haben", sagt Prof. Hans-Peter Brüggemann vom Institut für Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule Köln. Weltklassesprinter kommen auf über 90 Prozent schnelle Fasern; ein Marathon-Meister hingegen hat fast nur langsame. Was daran Veranlagung ist und was Training, ist in der Forschung umstritten. Schnell zuckende Muskeln beziehen ihre Energie vor allem aus der Verbrennung von Zucker und sind nicht auf Sauerstoff angewiesen - man spricht von anaerober Leistung. Denn das gespeicherte Muskelbenzin Adenosintriphosphat (ATP) reicht gerade mal für zwei bis vier Sekunden Höchstleistung. Der nächste Energiespender, Creatinphosphat, ist nach rund 20 Sekunden am Ende. Das Abbauprodukt der anaeroben Verbrennung ist Milchsäure; wenn die Muskeln übersäuern, geht gar nichts mehr.

Langsame Muskelfasern holen sich ihren Nachschub vorwiegend über aerobe Arbeit, die in ihren "Mitochondrien" abläuft. In diesen winzigen Kraftwerken der Zelle werden Kohlenhydrate und Fette also unter Sauerstoffverbrauch verbrannt - und so frisches ATP hergestellt. Diese Vorgänge dauern länger, die Muskeln bewegen sich bedächtiger, dafür kann der Körper, wenn er entsprechend trainiert ist, die Leistung stundenlang halten.

Jeder Motor nutzt sich ab durch Verschleiß. Muskelfasern aber werden stärker, wenn sie gefordert werden - auch im Alter noch, wie Wissenschaftler in jüngster Zeit entdeckt haben. Allerdings wachsen Muskeln nur, wenn der Widerstand groß genug ist, die so genannte Reizschwelle überschritten wird. No pain, no gain. Sonst könnten ja Übergewichtige zu Recht vermuten, dass ihre Extrapfunde das beste Training seien. Sind sie aber nicht.

Wissenschaftler erklären das Querschnittswachstum so: Durch hohen Kraftaufwand wie etwa beim Hantelstemmen werden die Fasern aufgebrochen. Die winzigen Risse in den Fasern ziehen nun vorher brachliegende Satellitenzellen an, die mit den Muskelzellen verschmelzen und diese so verdicken. Unterstützt wird die Volumenzunahme durch das muskelbildende Hormon Testosteron. Frauen produzieren weit weniger davon als Männer und bekommen daher nicht so schnell dicke Pakete. Ohnehin machen Muskeln bei der Frau nur 20 bis 30 Prozent des Gewichts aus, beim Mann sind es etwa 40 Prozent.

Wer Verspannungen vorbeugen will, sollte darauf achten, dass er sich hinreichend bewegt - und da ist selbst die häufige Haltungsveränderung im Bürostuhl besser als nichts. Beim Sport gilt es vor allem, falschen, einseitigen Muskelaufbau zu verhindern, indem man sich von einem Experten beraten lässt, ehe man zu den Hanteln greift. Und gegen die erhöhte Grundspannung der Muskulatur helfen Lockerungsübungen und Entspannungsförderndes wie autogenes Training. Kommen Rückenschmerzen von der Wirbelsäule, ist es mit Entspannung allerdings nicht mehr getan. Unser Rückgrat ist ein Turm aus 24 Wirbeln, Kreuz- und Steißbein und hundert empfindlichen Gelenken, geschützt, gestützt und bewegt von Muskeln. Die Belastungen, die auf das Konstrukt einwirken, werden abgefedert durch Bandscheiben, die Stoßdämpfer für den Rumpf. Wenn die Muskeln keinen ausreichenden Schutz bilden, sind diese extremen Erschütterungen ausgeliefert. Deshalb ist die beste Vorbeugung gegen Bandscheibenprobleme gezieltes Krafttraining. Und auch für die Therapie gilt inzwischen: Muskelaufbau und sanfte Bewegung sind die beste Medizin. Selbst der gefürchtete Bandscheibenvorfall verliert seinen Schrecken, wenn man weiß, dass viele Menschen mit einem solchen durchs Leben laufen und ihn - bei guter Muskelkraft - nicht einmal bemerken.

Bei fast allen 35-Jährigen weist mindestens eine Bandscheibe Schäden am Faserring auf. Von einem Vorfall spricht man, wenn so ein Schutzring einreißt, wodurch der gallertartige innere Teil austreten kann. Drückt der dann auf einen Nerv, jaulen die Patienten vor Schmerzen. Wenn andere Therapien nicht helfen, erscheint vielen Geplagten am Ende eine Operation der einzige Ausweg zu sein - wenngleich auch die nicht immer von dauerhaftem Erfolg gekrönt ist.

Ähnlich knifflig ist die Therapie von Arthrose, dem chronischen Verschleiß des Knorpels, der in den Gelenken wie ein Kissen zwischen den Knochen sitzt. In Verbindung mit der Gelenkschmiere soll der Knorpel die Beweglichkeit der Extremitäten sichern und ist deshalb für gewöhnlich spiegelglatt. Wenn sich seine Struktur durch eine Verletzung oder durch Abnutzung verändert, kann der Körper diesen Defekt nicht reparieren. Die Aufrauung führt zum Elastizitätsverlust, der Stoßdämpfer dämpft nicht mehr - jede Erschütterung schmerzt.

Ist das ohnehin stark belastete Kniegelenk betroffen, wird jeder Schritt zur Tortur - und die Patienten versuchen, sich zu schonen. Aber wie bei Muskel- und Rückenschmerzen ist Untätigkeit auch im Falle von Arthrose das falsche Rezept: Denn wenn das Gelenk nicht mehr bewegt wird, bildet sich keine neue Gelenkflüssigkeit und das Krankheitsbild verschlimmert sich. "Am besten ist ein Behandlungskonzept aus Krankengymnastik und physikalischer Therapie, etwa Wärme", sagt Walpert, "um die Stresstoleranz des Gelenkknorpels wieder zu erhöhen und den Schmerz zu lindern."

Vor allem Schwimmen und Radfahren fördern den Knorpelstoffwechsel, kurz: alle Sportarten, die die Gelenke nicht extrem beanspruchen. Es gibt bislang keine verlässlichen Studien, die zeigen, ob Sport auch präventiv gegen Arthrose wirkt. Nach Ansicht von Fachleuten der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention soll eine moderate Aktivität jedoch das Risiko verringern und den Knorpel belastbarer machen.

Wenn Krankengymnastik und Schmerzmittel nicht (mehr) helfen, können Mediziner versuchen, den angegriffenen Knorpel mit körpereigenen Zellen aufzufüllen, die dem Patienten zuvor entnommen und im Labor vermehrt wurden. Oder sie setzen ein Kunstscharnier ein.

Vor allem Hüft- und Kniegelenke, aber auch rund 30 weitere Scharniere lassen sich heute ersetzen. Seit den ersten Experimenten mit Elfenbein hat sich die Forschung rasant weiterentwickelt, aber noch immer ist keine Lösung für das Grundproblem gefunden: Wie verbindet man dauerhaft organisches mit nicht-organischem Material? Und auch wenn moderne Prothesen große Bewegungsfreiheit ermöglichen - für extreme Belastungen reicht ihre Funktionalität nicht aus. Die Patienten sind froh, überhaupt wieder schmerzfrei gehen zu können.

Auch wenn Rückenleiden und Probleme mit den Gelenken verstärkt ab 40 auftreten: Mit dem Alter haben die Beschwerden nur indirekt zu tun. Zwar verlieren wir vom 30. Lebensjahr an pro Jahrzehnt drei Kilogramm Muskelmasse, während der Anteil des Körperfetts wächst. Und darunter leiden Haltung, Beweglichkeit, Gelenkstabilität. Aber wir können etwas dagegen tun. Der Querschnitt der Muskelfasern lässt sich auch im Alter vergrößern.

Eine Studie aus den USA zeigt: 20 Tage völlige Bettruhe schaden der Leistungsfähigkeit mehr als 30 Jahre bewegtes Leben. Umgekehrt machen ein paar Wochen Training auch langjährige Sportmuffel wieder deutlich fitter. Wer vom Sofa aus über Aerobicmäuschen und aufgepumpte Bodybuilder höhnt, nimmt sich eine Chance. Denn auch wenn Sport und vor allem Krafttraining das Altern unserer Muskeln und Gelenke nicht verhindern - sie können es deutlich verlangsamen. Und es ist nie zu spät anzufangen.

Wissenschaftlicher Berater: Prof. Hans-Peter Brüggemann, Institut für Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule Köln

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Rüdiger Barth

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