Er ahnt nicht, dass er anders ist als andere Kinder. Und natürlich ahnt er nicht, wie sehr gerade um ihn gestritten wird. Mario* läuft vergnügt in Strumpfhose und T-Shirt durch die Wohnung. Drei Zimmer, Balkon, helles Laminat, hier lebt der Zweijährige mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder. An diesem Vormittag hält Mario die Mutter Jasmina A.** auf Trab: Er malt Bilder und präsentiert sie stolz. Wenig später bearbeitet er sein Metall-Xylofon mit einem Klöppel. Wie die Töne klingen, weiß Mario nicht: Er ist gehörlos – genau wie sein Bruder und seine Mutter.
Seit Wochen streiten Mediziner, Juristen, Ethiker und Behörden darüber, wie Mario mit diesem Handicap am besten leben kann. Der Fall des Kleinkindes macht Schlagzeilen. Marios Eltern wurde empfohlen, ihrem Sohn Hörprothesen einpflanzen zu lassen, sogenannte Cochlea-Implantate, abgekürzt CI. Die Mediziner am Städtischen Klinikum Braunschweig waren dafür, Marios Eltern strikt dagegen. Das Krankenhaus schaltete einen Anwalt ein, der das Jugendamt informierte. Inzwischen gab es eine erste Anhörung vor dem Amtsgericht in Goslar. Nun müssen Richter entscheiden. Es geht um das Kindeswohl, den elterlichen Willen, um die Einflussnahme von Medizinern und Staat – sogar um eine Konvention der UN.
"Auch Marios Vater ist hochgradig schwerhörig"
Jasmina A. schmiert ihrem Sohn ein Brot, dann setzt sie sich aufs Sofa und erzählt. Eine Dolmetscherin für Gebärdensprache übersetzt. "Nach Marios Geburt wurde ein Hörtest gemacht, ohne eindeutiges Ergebnis", sagt die 30-Jährige. Eine zweite Untersuchung wenige Monate später bei einem HNO-Arzt brachte ebenfalls keine Klarheit. "Auch Marios Vater ist hochgradig schwerhörig und kommuniziert über Gebärdensprache, wie wir alle in der Familie", sagt Jasmina A.
Im Sommer 2017 fahren die Eltern mit ihrem Sohn für einen erneuten Hörtest in die HNO-Klinik nach Braunschweig. Mit dem Ergebnis wollen sie Hörgeräte bei der Krankenkasse beantragen. Im Gespräch klärten die Ärzte die Eltern schon damals über die Möglichkeit auf, Mario Hörprothesen einzupflanzen. Bei einem zweiten Termin wird unter anderem ein Hörtest in Narkose durchgeführt. "Danach hatten wir ein Gespräch mit der Oberärztin", sagt Janina A. Der Test ergibt: Mario ist gehörlos. Erneut sprechen die Ärzte von Cochlea-Implantaten. "Wir haben gesagt, dass wir das für unseren Sohn nicht möchten", erinnert sich die Mutter.
Mitte September 2017 trifft bei ihr ein Brief des HNO-Chefarztes Andreas Gerstner ein: Er fordert sie dringend zu einem weiteren Gespräch über die CI-Versorgung auf, in dem er über die Behandlungsmethode aufklären will. "Das Ergebnis dieser Abklärung ist mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die Hörstörung durch ein Cochlea-Implantat geheilt werden kann", heißt es in dem Brief. Und: Als Garant für das Wohl des Kindes stehe der Arzt "ihm gegenüber nämlich in der Pflicht, die Schritte einzuleiten, die geboten sind, um potenziell irreparable Schäden von ihm abzuwenden. Falls Sie als seine Eltern diese ablehnen, dann muss ich hierzu eine Entscheidung des Familiengerichts anregen."
Eine vollwertige Sprache
Die Eltern entscheiden, nicht zum Gespräch in die Klinik zu gehen. "Wir wissen, was eine CI-Versorgung ist, und kennen Menschen, die ein CI tragen", sagt Jasmina A. "Aber für uns war klar: Wir sind eine gehörlose Familie, wir kommunizieren alle in Gebärdensprache. Wir möchten diese Operation für unseren Sohn nicht. Wir fanden nicht, dass weitere Gespräche zu dem Thema nötig waren." Die Klinik schaltet einen Anwalt ein. In dessen Schreiben an das Jugendamt heißt es, die Eltern hätten "kategorisch und ohne die Nennung von Gründen" eine CI-Versorgung ausgeschlossen.
Jasmina A. empfindet, wie viele Gehörlose auch, ihr Handicap nicht als Behinderung. "Ich bin gehörlos, ja. Aber ich bin nicht krank. Das sehe ich bei meinem Sohn auch so", sagt sie. Jasminas Eltern können hören, sie hat hörende und gehörlose Geschwister, Gebärdensprache ist in ihrer Familie normal. Und sie ist eine anerkannte Sprache mit eigenem Wortschatz. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, sie als gleich berechtigte Sprachform zu achten.
Tatsächlich kommen bald nach dem nicht wahrgenommenen Kliniktermin Mitarbeiter vom Jugendamt zu Jasmina A. nach Hause. Sie wollen mit den Eltern über CI-Versorgung sprechen und überprüfen, ob durch die Ablehnung einer Operation eine Kindeswohlgefährdung vorliegen könnte. "Ich habe die Welt nicht mehr verstanden", sagt Jasmina A., "Gefährdung des Kindeswohls bedeutet für mich, dass jemand sein Kind schlägt oder hungern lässt." Die Amtsvertreter haben den Eindruck, dass die Eltern informiert sind und "die Entscheidung sehr lange und sehr gut durchdacht haben". Eine Kindeswohlgefährdung verneinen sie. Dennoch wird der Fall an das Amtsgericht Goslar weitergeleitet, das Marios Eltern im November zu einer Anhörung vorlädt.
Der Fall wirft grundsätzliche Fragen auf: Leben Gehörlose mit CI-Versorgung besser? Garantiert eine OP gutes Hören? Dürfen Ärzte und der Staat bestimmen, was für ein Kind richtig ist? Wann genau ist das Kindeswohl gefährdet? Und warum werden diese Fragen ausgerechnet an Mario juristisch durchexerziert? Schließlich werden jährlich bis zu 1000 taube Kinder geboren, von denen etwa zehn Prozent gehörlose Eltern haben. In Deutschland leben um die 80.000 Gehörlose und rund 40.000 CI-Versorgte.
Mit einem CI kann ein Tauber so gut wie ein Schwerhöriger hören
Das Einpflanzen eines CIs bedarf aufwendiger Voruntersuchungen und erfolgt unter Vollnarkose. Für die Hörprothese wird in die Schädeldecke eine Mulde gefräst, in der ein Teil des Geräts seinen Platz findet. Dann wird eine Elektrode bis in die Hörschnecke ins Innenohr geführt. Der zweite Teil des Gerätes, der Sprachprozessor, wird außen hinter dem Ohr getragen. Obschon inzwischen ein Routineeingriff, gibt es Risiken und mögliche Nebenwirkungen, beispielsweise Wundheilungsstörungen, Infektionen, Lähmung des Gesichtsnervs, Verlust des Geschmackssinns, Tinnitus, Kopfschmerzen, Schwindel. Die Lebensdauer eines CIs ist begrenzt – sie beträgt bis zu 30 Jahre. Danach muss wieder operiert werden.
Seit dem Beginn der Streitigkeiten hat Jasmina A. eine engagierte Unterstützerin: Karin Kestner, Dolmetscherin für Gebärdensprache und Verlegerin. Im vergangenen Jahr erhielt sie das Bundesverdienstkreuz für ihren Einsatz, gehörlosen Kindern den Besuch an Regelkindergärten und -schulen mit einem Dolmetscher oder Assistenten zu ermöglichen. "Ich finde es erschreckend, dass ein Gericht darüber verhandelt, ob ein Kind ein CI eingepflanzt bekommen soll oder nicht", sagt Kestner. Und sie fragt sich: "Sollen demnächst die schätzungsweise 2000 gehörlosen Kinder in Deutschland, die in dem geeigneten Alter für so eine OP wären, zwangsimplantiert werden?"
Ob ein Mensch durch eine solche Prothese gut hören kann, lässt sich im Einzelfall nicht genau absehen. "Es gibt kein Zentralregister in Deutschland über Gehörlose mit CI", sagt Kestner. "Die meisten Zahlen sind Schätzwerte. Etwa 30 Prozent der Kinder mit CI-Versorgung erlangen ein gutes Sprachverständnis." Geheilt sind sie aber nicht – anders als es der HNO-Chefarzt in seinem Schreiben erklärt hat, sagt Kestner und erklärt, ein CI könne einem Tauben helfen, so gut wie ein Schwerhöriger zu hören.
Kein garantierter Erfolg
Einpflanzen, anschalten, hören – so einfach funktioniert es nicht, bestätigt auch Tim Drygala, Professor an der juristischen Fakultät Leipzig. Er hat zusammen mit seiner CI-versorgten Kollegin Mareike Kenzler gerade einen Fachartikel zu Marios Fall verfasst. Vielmehr sei nach der Operation ein jahrelanges tägliches Training von Hören und Sprechen nötig, um beides zu lernen. Jasmina A. sagt: "Wenn ich hören könnte, wäre die Situation anders: Ich könnte mit meinem Sohn sprechen und wahrnehmen, ob er richtig versteht und sprechen lernt. Das kann ich als Gehörlose aber im Alltag nicht leisten."
Selbst eine ideale Unterstützung garantiert nicht den Erfolg. "Ob und wie gut der Operierte von einem CI profitiert, lässt sich nicht sicher vorhersagen. Bei etwa 15 bis 25 Prozent der Kinder kommt es auch bei optimaler Förderung nicht zu einer zufriedenstellenden Sprachentwicklung", sagt Roland Zeh. Er ist Chefarzt der Abteilung für Hörstörungen, Tinnitus, Schwindel und Cochlea-Implantate der Median-Kaiserberg-Klinik in Bad Nauheim und zudem Vorsitzender der Deutschen Cochlea-Implantat Gesellschaft. Der Mediziner ist taub, seit er als Siebenjähriger an einer Hirnhautentzündung litt und Antibiotika sein Hörvermögen schädigten. Er lernte die Gebärdensprache und von den Lippen abzulesen, machte Abitur, studierte Medizin. Mit 37 Jahren entschied er sich für ein Cochlea-Implantat.
Seine Haltung zu Marios Fall ist eindeutig: "Ein CI ist nur sinnvoll, wenn die Eltern es auch unterstützen", sagt er. Neben dem jahrelangen Training müssten die Eltern auch dafür sorgen, dass der Sprachprozessor getragen werde. "Laut den medizinischen Leitlinien ist eine nicht sichergestellte Nachsorge und Rehabilitation eine absolute Kontraindikation der CI-Versorgung", erklärt er. "Deshalb hätte in dem vorliegenden Fall von den behandelnden Ärzten keine Indikation für ein CI gestellt werden dürfen." Und: "Bei diesem Jungen in diesem Familienkontext halte ich es für Kindeswohlgefährdung, wenn er gegen den Willen der Eltern ein CI bekäme."
In der Vergangenheit gab es Fälle, in denen Gerichte entschieden, dass ein Kind gegen den Willen der Eltern medizinisch behandelt wurde. Dabei ging es aber immer um lebensbedrohliche Situationen: wenn Eltern eine Tumor-Operation oder Bluttransfusionen verweigerten.
"Das Wohl des Kindes war von Anfang an unser primäres Ziel"
Der Leipziger Juraprofessor Drygala und seine Mitautorin kommen zu drei Schlüssen. Erstens: Eltern gehörloser Kinder teilweise das Sorgerecht zu entziehen, um eine CI-Versorgung zwangsdurchzusetzen, ist unzulässig. Zweitens: Die Entscheidung der Eltern gegen die Operation ist vertretbar. Ein staatliches "Optimierungsgebot" in Bezug auf behinderte Kinder besteht nicht. Drittens: Ein behindertes Kind darf nicht zum Zweck einer CI-Versorgung von seinen Eltern getrennt werden. Ein "Zwang zu hören" sei nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar.
Die Klinik, die den Fall ausgelöst hat, rechtfertigt sich: "Wir sind bei Minderjährigen dazu verpflichtet, deren Eltern angemessen aufzuklären. Die Eltern des Jungen haben sich dem Aufklärungsgespräch entzogen. Einen Anwalt haben wir aus haftungsrechtlichen Gründen eingeschaltet", erklärt Geschäftsführer Andreas Goepfert. "Wir wollten ausschließen, dass die Klinik sich in späteren Jahren eventuell Schadenersatzansprüchen seitens des dann volljährigen Patienten ausgesetzt sähe, weil er sehenden Auges nicht mit einem CI versorgt worden ist. Dann könnte es sein, dass die Klinik Schmerzensgeld zahlen muss." Man habe die Eltern keineswegs zu einer Operation zwingen wollen. "Das Wohl des Kindes durch eine allumfassende Aufklärung war von Anfang an unser primäres Ziel", sagt er.
Während Jasmina A. weiterhin Angst hat, dass andere über das Schicksal ihres Sohns entscheiden, lernt Mario neue Wörter in der Gebärdensprache. Sein neuestes geht so: Zeige- und Mittelfinger gestreckt, die restlichen gebeugt, die Hand macht eine Wellenbewegung von oben nach unten. Es bedeutet: blau.
* Name von der Redaktion geändert
** Name ist der Redaktion bekannt