TikTok-Trend "Ich manifestier mir die Welt, wie sie mir gefällt": Warum das "Lucky Girl Syndrome" Schwachsinn ist

Auf TikTok berichten "Lucky Girls" von ihrem ausnahmslos glücklichen Leben. 
Auf TikTok berichten "Lucky Girls" von ihrem ausnahmslos glücklichen Leben. 
© Nomad / Getty Images
Das Lucky-Girl-Syndrome gehört zu den bekanntesten TikTok-Trends unserer Zeit. Dabei setzen die Nutzer:innen für ein glückliches Leben alles auf eine Karte: positive Gedanken. Eine ausgesprochen schlechte Idee. 

Die Social-Media-Plattform TikTok wird seit Wochen von sogenannten "Lucky Girls" geflutet. Sie lächeln breit grinsend in die Kamera und erzählen freudestrahlend von ihrem glücklichen Leben, das sie einzig und allein ihrer Lebenseinstellung zu verdanken haben – und propagieren dabei eine Lebensart, die gar nicht mal so ungefährlich ist. Die Videos unter dem Hashtag #luckygirlsyndrome haben mittlerweile eine Reichweite von mehr als 500 Millionen Aufrufen erreicht, Tendenz steigend.

Das Glücksbärchen-Leben der Nutzerinnen scheint die Menschen also durchaus zu interessieren. Und es klingt im ersten Moment auch verlockend: Ein sorgenfreies Leben, zum Greifen nah. Ich muss mir dafür lediglich selbst sagen, dass ich alles erreichen kann, was ich mir wünsche. Aber wie viel Wahrheit steckt eigentlich dahinter? Die einfache Antwort dürfte Sie nicht überraschen: nicht sonderlich viel. Aber das Ganze ist deutlich komplizierter.

Marketing-Strategie oder Lebenslüge?

Es ist eine Sache, wenn das Versprechen auf leicht erreichbares und ewig währendes Glück von Unternehmen oder dubiosen Lebensberatern als Marketing-Instrument genutzt wird. Ist das verwerflich? Definitiv, denn es gibt Menschen, die darauf hereinfallen – und sich auf der Suche nach Glück womöglich ins Verderben stürzen. Vermutlich aber mindestens etwas kaufen, das ihnen das versprochene Glück wenn überhaupt nur kurzfristig geben kann. Hier kann man aber noch von einer unfairen Verkaufsstrategie sprechen.

Im Fall des Lucky-Girl-Syndromes erwecken die Nutzerinnen allerdings vielmehr den Anschein, dass sie wirklich glauben, was sie in ihren Happiness-Videos propagieren. Die amerikanische Influencerin Laura Galebe sagt in einem der ersten Lucky-Girl-Videos zum Beispiel: "Ich erwarte einfach immer, dass mir großartige Dinge passieren und dann passieren sie auch." Es folgt kein Produktplacement, kein Angebot für ein Webinar oder Sonstiges – lediglich der Hinweis, dass man doch selbst mal Manifestation ausprobieren solle.



Manifestation bedeutet im ursprünglichen Wortsinn, etwas sichtbar werden zu lassen. Genutzt wird der Begriff heutzutage vor allem in der Yoga- und Achtsamkeitsszene für Mantras, die man sich immer wieder selbst sagt. Das können allgemeine Affirmationen wie "Das Leben ist gut zu mir" oder auch individuelle Sprüche sein, die sich auf die jeweilige Lebenssituation beziehen. In der spirituellen Szene geht man davon aus, dass das Manifestieren die Kraft hat, unser Leben durch den Fokus auf unsere Wünsche und Visionen zu lenken.

Tiktok-Trend: Das Leben als einziges Wunschkonzert

Genau dieser Philosophie bedienen sich nun auch die Lucky Girls auf TikTok. Die Absenderinnen glauben fest daran, dass sie allein durch die Macht ihrer Gedanken ihr Leben zum Positiven wenden können. Und sie posten allerlei mutmaßliche Belege dafür, dass ihr Konzept aufgeht: Sie manifestieren eine neue Liebe und lernen kurze Zeit später ihren Traumpartner kennen. Sie denken sich einen Job herbei ­– und schon klopft der Personaler an die Tür. Und wer weiß, vielleicht können ihre Gedanken sogar Krankheiten heilen…

Klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein? Ist es auch. Ganz egal, wie sehr wir an das Gute glauben, kann trotzdem etwas Schlechtes passieren. Für Erfolg, für eine funktionierende Liebesbeziehung und für die Erfüllung der meisten unserer großen Träume müssen wir mehr tun, als lediglich daran zu glauben, dass all das irgendwann Realität sein wird. Aber ­– und das ist die gute Nachricht für alle Lucky Girls da draußen – es kann helfen, positiv zu denken. Wenn man es richtig anstellt.

Richtig heißt in dem Fall, dass den positiven Absichten auch Taten folgen sollten. Statt die Verantwortung für das eigene Leben abzugeben, in dem man sich einredet, durch seine Gedankenkraft Probleme lösen zu können, kann man die positiven Gedanken nutzen. Und zwar dafür, sein eigenes Selbstbewusstsein zu stärken und sich dadurch besser für die Krisen und negativen Gefühle zu wappnen, die das Leben nun einmal auch für jeden von uns bereithält. Wir wissen doch insgeheim alle: Wo Licht ist, ist auch Schatten und so.

Manifestation bedeutet eben nicht, sich einzureden, dass man durch positives Denken die äußeren Umstände verändern kann – sondern sein Inneres zu stärken, sich auf die positiven Dinge im Leben zu konzentrieren, ohne die negativen Seiten dabei zu ignorieren oder zu verdrängen. Wem das gelingt, der hat die Chance, tatsächlich zu einem glücklicheren Menschen zu werden – zumindest auf der Langstrecke. Genau das machen die Lucky Girls auf TikTok allerdings meistens falsch. Sie verweigern die Auseinandersetzung mit der Realität nahezu vollkommen, weil ja "eh alles gut wird". 

Die blinden Flecken der Lucky Girls

Ein realistisch gelebter Optimismus hingegen verändert unseren Blick auf die Welt. Dadurch begegnen wir Problemen auch zuversichtlicher und lösungsorientierter, statt uns hinzusetzen und uns vom Universum zu wünschen, dass es die Dinge für uns mal eben regelt. Mal ganz abgesehen davon, dass die Lucky Girls auf TikTok in ihrer positiven Gedanken-Bubble auch zu vergessen scheinen, dass es größere Probleme gibt als den Wunsch nach einem perfekten Boyfriend oder einem neuen Auto.

Die größte Schippe schlagen sie dabei der Emanzipation selbst. Jahrzehntelang haben wir Frauen dafür gekämpft, selbst über unser Leben entscheiden zu können. Und dann sind wir so langsam auf einem guten Weg zu mehr Gleichberechtigung, schon entmündigen sich plötzlich tausende junge, gebildete Frauen bereitwillig selbst. Und zwar für – ja, für was eigentlich? Für ein glückliches Leben, das eigentlich keines ist. Eine Erkenntnis, die auch die Lucky Girls vermutlich irgendwann ereilen wird. Denn es gibt Dinge, die sind mächtiger als jede Manifestation.

Rassismus, Armut, Klimakrise, Krieg, Tierquälerei, Kriminalität… die Liste könnte man beliebig fortführen. In einem Punkt stimmen die großen Probleme unserer Zeit überein: Sie lassen sich eben nicht durch die Kraft unserer Gedanken lösen. Ganz egal, wie lucky die Girls auf TikTok noch werden – sie werden keine Lösung für strukturelle Probleme finden. Das Universum im Übrigen auch nicht.

Und dennoch haben die vielen Krisen der letzten Jahre etwas mit dem Erfolg der Lucky Girls zu tun: Die Menschen sehnen sich nach Sicherheit, nach Kontrolle. Je unübersichtlicher die Zeiten werden, desto größer der Nährboden für scheinbar einfache Auswege aus dem Irrgarten. Nur leider sind genau diese oft eine Sackgasse. Stattdessen lohnt es sich, sich selbst kritisch zu hinterfragen, wenn das Leben mal nicht in die Richtung läuft, die einen glücklich macht.

Befinde ich mich auf dem richtigen Weg? Welche Richtung möchte ich einschlagen – und welche Wege bin ich nur für andere gegangen? Was für ein Mensch möchte ich sein – und mit welchen Menschen möchte ich die Zeit verbringen, die ich habe? Ehrliche Antworten auf diese Fragen zu finden, bringt uns einer langfristigen Zufriedenheit womöglich näher als alles, was die übermotivierten Lucky Girls auf TikTok so im Angebot haben. Man muss nur daran glauben.

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