Frau Stahl, es ist gar nicht so leicht bei all den schlechten Nachrichten derzeit noch gute Laune zu bewahren – wie klappt es trotzdem?
Erstmal sollte man sich nicht unter Druck setzen, schlechte Laune gehört manchmal zum Leben dazu. Es hilft aber beispielsweise, sich nicht ständig die Nachrichten reinzupfeifen, einmal am Tag genügt. Stattdessen sollte man sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, auf die Dinge, die anliegen. Wichtig ist auch, dass man das Gehirn beim Denken nicht sich selbst überlässt, sondern darauf achtet, in welche Richtung sich die Gedanken bewegen.
Wie bekommt man seine Gedanken in den Griff?
Zum Beispiel, indem man die Dinge, die einen belasten und auch die, die gut laufen, niederschreibt. Unser Gehirn hat die fürchterliche Angewohnheit, immer nur auf die Baustellen zu gucken, auf das, was schlecht läuft. Daher sollte man bewusst auch darauf achten, was gut ist, wofür man dankbar sein kann. Sonst kommt man zu schnell ins Jammern.
Zeit zum Nachdenken gibt es derzeit wahrlich genug. Zu viel Zeit?
Das ist eine Mischkalkulation. Einerseits kann man die Zeit gerade wunderbar für Selbstreflektion, für persönliche Weiterentwicklung nutzen – zum Beispiel in dem man einen guten Ratgeber liest. Auf der anderen Seite kann man aber auch nicht von morgens bis abends über sich selbst nachdenken. Wir brauchen auch Ablenkung und vor allem Struktur. Es ist wichtig jetzt nicht zu vergammeln, sondern dass man, auch wenn man eventuell gerade in Kurzarbeit ist, morgens aufsteht, sich anzieht und den Tag plant. Bewegung sollte unbedingt in den Tagesablauf eingebunden werden. Bewegung ist das beste Antidepressivum, das es gibt.
Ist jetzt die Gelegenheit, lang gehegte Pläne umzusetzen?
Es ist die absolut beste Zeit, Projekte anzugehen. Ich sage Ihnen auch warum: Ohnmacht kann depressiv machen. Über die momentane Situation haben wir keine Kontrolle. Wir werden unter irgendwelche Maßnahmen und Regeln gestellt, die wir zum Teil einsehen, manche aber auch nicht. Wir fühlen uns dem ohnmächtig ausgesetzt, in unserer Freizeit und zum Teil auch in unserer Freiheit begrenzt. Das ist das Gefühl, das einem so tierisch auf die Nerven gehen kann. Durch Projekte können wir die aktuelle Situation in etwas Positives für uns verkehren, in etwas, was sich gut anfühlt und dadurch ein Stück weit Kontrolle zurückerlangen. Das ist der Trick dabei.
Sie sagten, auch Ablenkung sei wichtig. Die ist derzeit nur gar nicht so leicht zu bekommen. Was macht das mit unserer Psyche?
Es gibt aktuell wirklich mehr Menschen, die psychische Probleme haben. Aber mehr noch als die mangelnde Ablenkung ist es die fehlende Tagesstruktur, die vielen fehlt. Ich brauche schon eine gewisse Stabilität, um damit umgehen zu können, dass kein klares Ende der Pandemie in Sicht ist. Wenn wir heute wüssten, am 17. August ist alles vorbei, dann hätten wir eine andere Einstellung dazu. Aber so ist die Lage diffus. Bei Menschen, die sowieso schon eine Prädisposition zu depressiven Verstimmungen oder Ängsten haben, labilisiert sich die Situation, weil nichts normal ist und sich nichts normal anfühlt. Was sich nicht normal anfühlt und einen dazu noch umbringen kann, macht Angst. Dazu kommt, dass viele Rituale, Institutionen und Kontaktmöglichkeiten wegfallen. Das ist natürlich bitter, sowohl für unser Bindungsbedürfnis als auch unserem Bedürfnis nach Kontrolle und Stabilität.
Familie, Lebenspartner, Freunde können sich gegenseitig stützen, Kraft geben, wenn die Gedanken einmal allzu düster werden. Aber was tun, wenn einer nur noch in der Negativ-Gedankenspirale festsitzt?
Für möglichst viele positive Erlebnisse sorgen. Wenn jemand nur noch grübelt, ist das meistens ein Zeichen dafür, dass jemand in eine Depression reinrutscht. Das Problem ist: Das Gehirn speichert dann keine positiven Erfahrungen mehr ab, stattdessen ist das Zentrum, das negative Emotionen generiert und festhält, extrem aktiviert. Deswegen ist es wichtig, dass man aktiv für positive Erlebnisse sorgt.
An was denken Sie dabei?
Rausgehen, wandern, einen schönen Film gucken, was Leckeres kochen - alles was einem im Rahmen der erlaubten Möglichkeiten einfällt. Durch das Positiv-Erlebnis bekommt der andere bestenfalls einen Kick und wird aus dem Grübelzwang rauskatapultiert. Immer wenn wir die Konzentration auf etwas richten, was außerhalb von uns selbst liegt, entlastet das sehr, dann sind wir selbstvergessen. Das ewige Wiederholen der immer gleichen Inhalte ist als hilfloser Versuch des Gehirns zu verstehen, irgendetwas unter Kontrolle bekommen zu wollen. Deswegen auch hier: Sorgen aufschreiben. Ich vergleiche das immer mit Einkaufszetteln. Wenn ich 20 Produkte einkaufen will, sie mir aber nicht notiere, habe ich sie ständig im Kopf, damit ich sie nicht vergesse. Habe ich eine Liste, kann sich das Gehirn anderen Dingen widmen. .
Homeoffice ist das eine, wer dazu noch Kinder daheim betreuen, Schule ersetzen muss, steht derzeit vor besonders großen Herausforderungen. Wie schafft man es, trotz erhöhtem Stresspegel ruhig zu bleiben und nicht zum Hausdrachen zu mutieren?
Letztlich hängt alles immer von der eigenen Stimmung ab. Daher ist es wichtig, dass man für ganz viel eigene Entlastung sorgt, also möglichst viele Dinge macht, die einem persönlich gut tun. Das lädt die Batterien auf. Und: Den Perfektionismus aufgeben. Es muss nicht immer alles klappen. Entlastend ist eine gute Tagesstruktur, denn dann passieren die Dinge nicht einfach irgendwann. Mit den Kindern kann man feste Zeiten vereinbaren, Schule und Freizeit trennen und die Schulsachen dann auch wegräumen. Man sollte auch versuchen, sich für das zu begeistern, was die Kinder lernen und die neue Aufgabe nicht nur als lästig zu empfinden.
Zu viel oder zu wenig Nähe und Distanz macht gerade vielen zu schaffen. Auch Singles haben zu knapsen. Ihr Problem: Einsamkeit. Ist es eine gute Idee, jetzt nach einem Partner zu suchen?
Warum nicht? Es gibt online viele Möglichkeiten. Laut Studienlagen sind im Internet angebahnte Beziehung haltbarer und glücklicher als die aus dem wirklichen Leben. Das ergibt für mich total Sinn. Und auch für Menschen, bei denen das Singledasein Gründe hat wie ein bestimmtes Beuteschema oder versteckte Bindungsängste, ist jetzt eine gute Zeit, um zu reflektieren und sich neu aufzustellen
Können Sie erklären, was Online-Dating besser kann als das Kennenlernen im realen Leben?
Wenn man sich übers Internet kennenlernt, ist man nicht direkt verliebt, sondern man checkt sich aus, prüft, ob überhaupt eine gemeinsame Basis da ist. Wenn man sich dann trifft und sich verliebt, passt es. Im wirklichen Leben ist es genau umgedreht, man verliebt sich am besten auf den ersten Blick, zeigt sich von seiner besten Seite und wenn die ganzen Hormone abgebaut sind, man wieder bei klarem Verstand ist, sieht man erstmal, was man sich da angelacht hat. Insofern ist es gut, auch im Internet zu gucken.
Frau Stahl, verraten Sie uns noch, wie Sie es derzeit schaffen, positiv zu bleiben?
Ich habe das Glück in einer glücklichen Ehe zu sein. Und ich habe den Spieß umgedreht und mit einem neuen Buchprojekt aus der Not die Tugend gemacht. Außerdem gehe ich viel spazieren. Manchmal muss ich mich zwar dazu zwingen, aber nach ein paar Schritten geht’s mir meist direkt besser.