Gerhard Schröder ist in der deutschen Politik nicht mehr vermittelbar. Das bedeutet freilich nicht, dass Politik im Stil eines Gerhard Schröder unvermittelbar geworden ist. Ganz im Gegenteil, wie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius gerade vormacht. Der Mann wirkt in mancher Hinsicht wie ein Schröder-Klon: Er ist ein eingefleischter Niedersachse, er ist Jurist und stolzer Sozialdemokrat, sogar in dieselbe Frau haben sich beide Männer mal verliebt. Wichtiger aber: Auch Pistorius wirkt, als könne er nicht nur "Basta" brüllen, sondern auch leutselig rufen: "Hol mir mal ’ne Flasche Bier, sonst streik ich hier."
Neues Wirgefühl in der Truppe
Und so erleben wir, dass in der SPD (zu Recht) niemand mehr mit Gerhard Schröder etwas zu tun haben will, weil dieser sich nicht vom Kriegsverbrecher Wladimir Putin distanzieren mag. Zugleich ist aber wahrnehmbar, dass kumpeliges bis machohaftes Auftreten die Deutschen bei Politikern offenbar weiter fasziniert, vor allem im Vergleich zur kühlen Zurückhaltung eines Olaf Scholz. Noch verdankt die Bundeswehr dem Minister Pistorius keinen Schuss Munition mehr, noch ist kein Soldat besser ausgestattet, noch fährt kein Panzer schneller – dafür ist Pistorius viel zu kurz im Amt. Aber schon herrscht ein neues Wirgefühl in der Truppe, und bei den Deutschen ist der Verteidigungsminister in Beliebtheitsumfragen ganz nach oben geklettert. Was heißt der Erfolg von "Boris dem Starken" für die Bundesrepublik, die ihre Rolle sucht zwischen Ukraine-Sympathie und Kriegsmüdigkeit?
Der zögerliche Herr Scholz hat vorige Woche zumindest ganz entschieden eine Lanze gebrochen für die Notwendigkeit von Dienstreisen auch in Zeiten von Videokonferenzen. Fast 18 Stunden Flug nahm er auf sich, um rund 60 Minuten in Washington ganz vertraulich mit US-Präsident Joe Biden sprechen zu können. Journalisten durften Scholz nicht begleiten, ungewöhnlich. Es ging anscheinend nicht um Bilder, sondern um Inhalte, noch ungewöhnlicher.
Vorwurf: Anbiederung an Amerika
Erstaunlicherweise geriet Scholz’ Blitz-Trip nicht einmal aus Klimaschutzgründen in die Kritik. Manche regten sich über unser Titelbild der vorigen Woche auf, auf dem gelobt wurde, dass es Joe Biden gebe und der "Große Bruder USA" wieder an unserer Seite stehe. Anbiederung an Amerika hielten uns einige vor. Gewiss, man kann immer über Aspekte der US-Politik diskutieren – nicht diskutieren kann man, dass uns mit den Amerikanern weit mehr Werte verbinden als mit einem Land, das eine Söldnertruppe namens "Wagner" hat, die Strafgefangene in der Ukraine verheizt oder Putin Gold aus Afrika beschafft. Marc Goergen und Bettina Sengling bringen Licht in ein russisches Schattenimperium, in dem Menschenleben nichts zählen.
Kim Bui, 34, geboren in Tübingen, Tochter einer Vietnamesin und eines Laoten, war eine Gewinnerin, fast zwei Jahrzehnte lang zählte sie zu den besten Turnerinnen Deutschlands. Aber war sie auch eine glückliche Frau? Ihr Buch "45 Sekunden" ist kein Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte, es ist ein bewegendes Dokument über Grenzüberschreitungen im Spitzensport. Für den Traum, die beste Turnerin Deutschlands zu werden, hungerte Bui, erbrach sich, verheimlichte gar ihren Freund. "Ich musste weinen, wenn ich den Trainingsplan las", verriet sie meinem Kollegen Christian Ewers. Als der sie fragte, wie viel sie heute wiege, antwortete sie: "Keine Ahnung. Eine Waage kommt mir in diesem Leben nicht mehr ins Haus." Dieses Gespräch trägt das Prädikat: schmerzhaft, aber notwendig. Denn nach der Lektüre werden Sie Hochleistungsturnen nie wieder ganz unbefangen anschauen.