Dating ist Chaos. Nirgends wird das so deutlich wie in der Netflix-Datingshow "Love is Blind". Singles verlieben sich dort, ohne sich je gesehen zu haben, nur auf Basis von Gesprächen. Das verrät mehr über Liebe in der Postmoderne als jede soziologische Studie. Schon in den vergangenen fünf Jahren war die Show ein Blick in die Abgründe des postmodernen Liebefindens. Mit Staffel 6, die seit Valentinstag läuft, ist ein neuer Tiefpunkt erreicht.
Dabei beginnt alles so gut gelaunt. "Ich will einen Mann, der mein Inneres wertschätzt", strahlt AD, 32, Maklerin, in die Kamera. "Das Aussehen sollte nur die Kirsche obendrauf sein." Trevor macht sich Sorgen, dass seine Muskeln von seiner Persönlichkeit ablenken. Er ist 30, Vertriebler, trägt Vokuhila und sagt: “Viele Frauen bilden sich ihre Meinung über mich, bevor sie meine innere Persönlichkeit kennenlernen.”
"Love is Blind" sollte mal die Antwort auf Tinder und Corona sein. Also der Beweis, dass Verbindung auch ohne oberflächlichen, physischen Kontakt entstehen kann. Eine Gruppe von heterosexuellen Singles wird für zehn Tage nach Geschlecht getrennt eingesperrt. Handys und Medien sind verboten, Kontakte nach draußen auch. Ihre einzige Beschäftigung: Dating. In Kabinen, den sogenannten "Pods", treffen sie sich zu Dates, bei denen sie ihr Gegenüber durch Lautsprecher hören, aber nicht sehen können.

Ziel der Datingphase ist es, einen Heiratsantrag zu bekommen. Erst dann sehen sich die Paare – und fahren gemeinsam in einen Luxusurlaub. Phase drei ist das Zusammenziehen in von Netflix angemieteten Wohnungen. Und wenn alles gut geht: Hochzeit, klar. Dann nämlich hat Netflix den Beweis erbracht, dass wir, während wir stoisch auf Dating-Apps umherwischen, vielleicht en passant die Chance auf die große Liebe verpassen. Weil sie uns zu blond ist, einen schlecht sitzenden Anzug trägt oder selbstbewusst mit einem toten Hecht posiert. Eigentlich ist Liebe blind!
Ein bisschen Liebe erstickt alle Konflikte
Wie in den vergangenen Staffeln dauert es nicht mal bis zum Ende der ersten Folge, bis die ersten Red Flags wehen. Allen voran der Bösewicht: Matthew, 36, Finanzberater. Er hat eine Liste mit 15 Fragen – von pragmatisch bis herzlos – mitgebracht, die er jedem seiner Blind Dates vorsetzt. Nummer zehn: Was sind deine Stärken in einer Beziehung? Relativ lustlos castet er die Kandidatinnen durch ("Frage Nummer vier kam schon ein paarmal, bitte such dir was anderes aus"). Über seine eigenen Stärken in einer Beziehung hat Matthew noch nicht nachgedacht, und auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortet er ebenfalls nicht ("Das ist meine Sache"). Während ihm eine Kandidatin Frage zwölf beantwortet – "Was ist eines deiner kurzfristigen Ziele im Leben?" – und mit zitternder Stimme ausholt, wie schwierig es sei, sich verletzlich zu machen auf der Suche nach der großen Liebe, verlässt Matthew wortlos den Dating-Pod. Hier hat einer die Ökonomie des freien Marktes vollumfänglich akzeptiert und die Spielregeln verinnerlicht. Auch der Mensch ist letzterdings ein Produkt, hoffentlich ohne Mängel.