Eine Party in einem alten Fabrikgebäude in Köln-Deutz. Drinnen wird getanzt, draußen geraucht. Von weitem kann man den Rhein sehen. Ein schöner, warmer Spätsommerabend. Zwei Frauen stehen zusammen, beide Mitte Dreißig. Die eine ist Architektin und baut auch für Diktatoren, wie sie freimütig zugibt. Die andere arbeitet bei einer Tierschutzorganisation und kümmert sich um Schildkröten auf Bali. Die beiden mögen sich - eigentlich. Doch sie sind in eine hitzige Diskussion geraten. Es geht um Politik. Darum, ob die Generation der 30- bis 40-Jährigen politisch ist oder nicht. Völlig unpolitisch, sagt die Architektin. Es gäbe keine gesellschaftliche Vision mehr, die sie vereine. Keine linken Ideale mehr wie bei den 68ern, keine Anti-Atomkraft-Bewegung, keine Friedensmärsche, nur noch ein bisschen Bio-Obst und fair gehandelter Kaffee.
Der alte Schlawiner Kapitalismus
Die Umweltaktivistin widerspricht: Zahllose Gruppen würden sich politisch engagieren. Gegen die Castor-Transporte, gegen die G8-Gipfel, für den Klimaschutz. Basisarbeit produziere eben nicht immer die dicken Schlagzeilen, deswegen sei sie trotzdem wichtig. Ein müdes Lächeln von links, ein giftiges Funkeln von rechts. Nun hätte man sich etwas Fröhliches von drinnen gewünscht. Das "Lied vom Ende des Kapitalismus" von der Kölner Ein-Mann-Band PeterLicht etwa: "Der Kapitalismus, der alte Schlawiner / Is uns lange genug auf der Tasche gelegen / Vorbei vorbei / Jetzt isser endlich vorbei / Is ja lang genug gewesen". Doch der Dj hat den Schuss nicht gehört.
Ein Plakat verspricht Unerhörtes
Die Meldungen vom Tage: Der Aufschwung ist in den letzten drei Jahren nachweislich in die Taschen der Unternehmen und der Reichen gewandert, in Berlin lebt jeder Fünfte von Sozialhilfe. Und nachts auf dem Nachhauseweg stolpert man über eine betrunkene Frau, die sich die Hände an einer geplatzten Bierflasche zerschnitten hat und keinen Arzt will, weil sie keine Krankenversicherung hat. Stimmt die Losung vom neuen linken Lebensgefühl, dann gibt es einiges zu tun. Ein Plakat kommt in den Blick und verspricht Unerhörtes: "Marx - Das Manifest". Die berühmte Proklamation einer klassenlosen Gesellschaft als "philosophische Performance". Das Theaterensemble nennt sich "Splittergruppe8" und spielt Marx in einer Kirche. Mehr als eine müde Provokation?
Der schlafende Theorie-Riese
Die St.-Johannis-Kirche in Hamburg-Altona. Der neugotische Bau stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sollte damals die aufkeimende Altonaer Arbeiterbewegung zur Räson bringen. Etwa 80 Besucher sind gekommen. Die Holzbänke knirschen, vereinzeltes Husten, die Marx-Messe kann beginnen. Acht junge Leute, alle um die 20, betreten das Kirchenschiff. Sie bauen Feldbetten auf und legen sich erst einmal hin. So hätte es bleiben können: Marx als der schlafende Theorie-Riese, der keinen mehr schert. Doch dann springen die Schauspieler plötzlich auf und stürmen zum Altar. Sie machen sich dort an Popcorn-Maschinen zu schaffen und verteilen das Süßzeug anschließend im Publikum. Dabei fixieren sie die vorderen Reihen mit eindringlichen Blicken, als wollten sie sagen: Seht her, es ist uns ernst, wir spaßen nicht. Es geht ums Erwachsenwerden.
Die Vision reicht bis zum nächsten Vorstellungsgespräch
Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels liest sich im Jahr 2008 so: Die Proletarier sind die Hässlichen und die Langsamen, die im Lifestyle-Wettbewerb und im Konkurrenzkampf um die besten Jobs den Kürzeren ziehen. Die Bourgeoisie wird verkörpert unter anderem durch die Eltern, die Kapital in ihre Kinder investieren, damit diese später Gewinn abwerfen. Acht Bürgertöchter und -söhne proben anderthalb Stunden lang den Aufstand: Macht kaputt, was euch kaputt macht! Sie schreien viel herum und zerschlagen ein wenig Porzellan. Alles ist so kompliziert geworden in der modernen Welt. Was ist proletarisch, was bourgeois? Und muss in einer klassenlosen, kommunistischen Gemeinschaft nicht auch jeder seinen Mann oder seine Frau stehen? Die Vision heißt weniger Stress und mehr Selbstbestimmung - und reicht bis zum nächsten Vorstellungsgespräch.
Marx als Therapie...
Nach der Aufführung sagt eine der Schauspielerinnen, dass sie Marx' Gesellschaftsprogramm aus heutiger Sicht für etwas blauäugig halte. Er habe ihr geholfen, ihre private Situation besser zu verstehen. Mehr nicht. Hat Marx also als Impulsgeber für das große Ganze endgültig ausgedient? Aber stand nicht zu lesen, dass seine Schriften einen Verkaufsboom erleben wie schon lange nicht mehr? Ein Anruf in Berlin bei Jörn Schütrumpf. Schütrumpf ist Geschäftsführer des linken Karl-Dietz-Verlags und verlegt die berühmte blaue Edition des "Kapitals". Drei Bände, das Stück zum Preis von unter 20 Euro. "Ja, es stimmt", sagt er, "wir haben im Mai 2008 dreimal so viel verkauft wie im gleichen Monat des Vorjahres", sagt er. Das ist immer noch nicht genug, um es damit auf die Bestsellerlisten zu schaffen, doch über 1.500 verkaufte Exemplare im Jahr sind schon ein Ereignis für ein derart sperriges Werk aus dem vorvorherigen Jahrhundert.
...und fürs Party-Gespräch
Vor allem junge Akademiker zählten zu den Käufern, so Schütrumpf. "Die haben vor einigen Jahren 'Empire' und 'Multitude' von Hardt und Negri gelesen und darin keine befriedigenden Antworten gefunden. Jetzt schlagen sie beim alten Marx nach." Insbesondere dessen Analyse der Grundmechanismen des Kapitalismus interessiere die Leute, vermutet der Verleger. Doch so richtige Illusionen über eine Marx-Renaissance will er sich nicht machen: "Ich glaube ja, dass zwei Drittel unserer Käufer das ‘Kapital‘ zu Hause ins Regal stellen, um bei der nächsten Party damit angeben zu können."
Wale retten und Bücher lesen
Ist Linkssein also nur gerade schick und Karl Marx eines der alten neuen Pin-ups? Gerlinde Schneider und Hilke Bölts vom Buchladen Osterstraße in Hamburg-Eimsbüttel wollen das weder bestätigen noch dementieren. Sie haben einen festen Kundenstamm im Stadtteil, der ihr politisches Büchersortiment schätzt. Altlinke, die jetzt Lehrer sind, und sich vor allem für Zeitgeschichte interessieren. Studenten, die globalisierungskritische Literatur lesen. Besonders gut laufen zur Zeit Titel, die sich mit der RAF beschäftigen: "Das Projektil" von Karl-Heinz Dellwo etwa, die Meinhof-Biografie von Jutta Ditfurth. Marx ist hier kein Thema. Vielleicht hat die österreichische Ein-Frau-Band Gustav bei allem Sarkasmus recht, wenn sie singt: "Rettet die Wale und stürzt das System / Und trennt euren Müll, denn viel Mist ist nicht schön." Vielleicht sind die Zeiten der großen gesellschaftlichen Erklärungsmodelle tatsächlich vorbei. Vielleicht ist es ganz einfach so, wie Jörn Schütrumpf sagt: "Die Leute wollen mit Hilfe vom Marx begreifen, was um sie herum passiert." Dann legen sie "Das Kapital" beiseite und bringen brav den Müll runter.
In Teil drei unserer Serie erklärt der Politologe Michael R. Krätke, warum Marx' Kritik an einer "verkehrten Welt von verrückten Ideen" höchst zeitgemäß ist.