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Graphic Novel "Neukölln politisch korrekt zu machen, wäre Blödsinn" – Felix Lobrecht und Oljanna Haus über "Sonne und Beton"

Oljanna Haus und Felix Lobrecht
Oljanna Haus und Felix Lobrecht im Interview über "Sonne und Beton"
© Max Schmieder / Marvin Ruppert
Felix Lobrecht hat zusammen mit der Illustatorin Oljanna Haus aus seinem Debüt-Roman "Sonne und Beton" eine Graphic Novel gemacht. Im Interview sprechen die beiden über Neukölln, Chancen, derbe Sprache und langweilige Schullektüren.

Zwei Brüder stehen rauchend auf einem Balkon und blicken in die graue Betonwüste einer Neuköllner Hochhaussiedlung: "Glaube mir, hätte auch anders ausgehen können", sagt der eine zum anderen.

Und ja, das hätte es. Auch für Felix Lobrecht, in dessen neuer Graphic Novel sich diese Szene findet. Doch es kam so wie es kam und Lobrecht ist heute einer der erfolgreichsten Comedy-Stars Deutschlands. In seinem fiktiven Bestseller-Roman "Sonne und Beton" beschrieb der Neuköllner vor drei Jahren, was er in seiner Jugend in der Berliner Gropiusstadt erlebte.

Graphic Novel "Sonne und Beton"
Die Graphic Novel "Sonne und Beton" von Felix Lobrecht und Oljanna Neuhaus erscheint im Verlag Hanserblau.
© hanserblau

Diesen Roman gibt es nun als Graphic Novel, gezeichnet von der 23 Jahre alten Oljanna Haus. Eigentlich macht sie eine Ausbildung zur Zimmerin, doch im ersten Lockdown begann sie aus Langeweile, einzelne Szenen des Romans zu zeichnen und postete sie auf Twitter. Felix Lobrecht sah die Bilder und schrieb sie an. Aus dieser Nachricht entstand ein ganzes Buch. Dieses zeigt Bilder von Jugendlichen in Picaldi-Jeans, von U-Bahnhof-Plakaten, welche die neue "The Dome Summer"-CD anpreisen und von Zeitungstitelseiten, die am Kiosk Schröders aktuelle Amtszeit besprechen: Es sind die Nullerjahre und mittendrin eine Gruppe von Jungs, die Bierkästen durch graue Häuserschluchten schleppen, sich in Bushaltestellen betrinken und in die eigene Schule einbrechen.

Es ist ein Buch über die Einsamkeit und die Fehler der Jugend. Obwohl das N-Wort und rechte Parolen gegrölt werden, wird die Graphic Novel bereits jetzt in vielen Schulen Deutschlands gelesen – mit dem stern sprachen Autor und Zeichnerin über ein grau gezeichnetes Neukölln und langweilige Schullektüren.

"Sonne und Beton"
Szenen aus "Sonne und Beton": Gespräche über den Dächern von Hochhaus-Schluchten ...
© hanserblau

Oljanna Haus, Sie haben ihre erste Graphic Novel gezeichnet. Die Vorlage war mit "Sonne und Beton" direkt ein Bestseller-Roman. Hatten Sie keine Angst zu scheitern, als Felix ihnen auf Twitter schrieb?

Oljanna Haus: Ich habe mich so sehr darüber gefreut als Felix mir schrieb, ich hätte wahrscheinlich zu allem einfach ja gesagt. Eigentlich mache ich eine Berufsausbildung zur Zimmerin im baden-württembergischen Bieberach und hatte für sowas keine Zeit. Auch für dieses Telefoninterview musste ich gerade eine Schulstunde verlassen. Doch im ersten Lockdown hatte ich Langeweile und zeichnete einfach drauf los. Als feststand, dass daraus eine ganze Graphic Novel werden sollte, habe ich nach meinen Online-Kursen bis spät in die Nacht gezeichnet. Auch wenn meine Freunde feiern gingen, zeichnete ich am Wochenende bis früh morgens weiter. Am Ende half mir meine Naivität, dass ich nicht wusste, was an Arbeit auf mich zukommt. 

Felix Lobrecht: Das war bei mir vor drei Jahren genauso, als ich den Roman "Sonne und Beton" geschrieben habe. Bei seinem ersten Buch weiß man nicht, wie unglaublich viel Arbeit auf einen zukommt. Ich habe damals einfach drauflosgeschrieben. Jetzt sitze ich an meinem zweiten Buch und habe eine Schreibblockade, weil ich weiß, wieviel Arbeit noch vor mir liegt. Ich bin halt kein Autor im klassischen Sinne – nur einfach jemand, der mal ein Buch geschrieben hat. Wer einmal auf einer Bühne stand, ist für mich auch kein Comedian.

Felix Lobrecht, reichen Sie gerne Menschen die Hand, die noch unerfahren sind?

Felix Lobrecht: Das ist so ein HipHop-Grundgedanke: Bring dich selbst hoch und dann dein Team. Ich habe Oljannas Zeichnungen gesehen und wusste sofort – da muss man etwas draus machen. Ich brauchte keine weiteren Referenzen. Ich sah, dass sie ihr Handwerk beherrscht. Auf Referenzen zu achten, ist ja eh ein System, das sich selbst voraussetzt. Mit irgendwas muss jeder mal anfangen. Auch die jungen Comedians, die ich bei mir unter Vertrag habe, waren jahrelang auf den kleinen Bühnen Berlins unterwegs. Die hatten schon viel Erfahrung, doch das Problem war: Niemand kannte sie. Oljanna war nicht unerfahren, sondern nur unbekannt – das ist jetzt anders.

Die Graphic Novel erzählt eine fiktive Geschichte, handelt jedoch von den Neuköllner Straßen, auf der Sie aufgewachsen sind. Hätten Sie sich früher gewünscht, dass ihnen jemand die Hand reicht und ihnen eine Chance gibt, wie sie es bei Oljanna Haus getan haben?

Felix Lobrecht: Ja ich sowas habe ich mir auf meinem Weg oft gewünscht. Ich bin der älteste meiner Geschwister. In manchen Momenten meines Lebens hätte ich mir einen großen Bruder gewünscht, der mir Dinge erklärt. An der Universität beispielsweise hatte ich anfangs eine Dozentin, die ich cool fand und die mich mochte. Sie hat mich mitgezogen und mir einen Weg aufgezeigt. Doch dann hat sie krankheitsbedingt gekündigt, obwohl ich sie als Mentorin brauchte. Wenn sie nicht aufgehört hätte, dann wäre aus mir an der Universität vielleicht richtig was geworden. Die Jungs von denen unsere Graphic Novel erzählt, hätten auf den Straßen Neuköllns keine Person gebraucht, die ihnen hilft. Sie haben ihre Freunde. Viel eher hätten diese Jungs, wie ich in meiner Jugend, eine gesellschaftliche Struktur gebraucht, um nicht auf die schiefe Bahn zu kommen. Sie sind Opfer ihrer sozialen Umstände. Sie hätten ein Deutschland gebraucht, das sich um sie kümmert.

"Sonne und Beton"
... die Jugend im Neukölln der Nuller-Jahre ...
© hanserblau

Oljanna Haus, wie haben Sie Zugang zu dieser Neuköllner Welt gefunden, um Sie zu zeichnen?

Oljanna Haus: Ich bin in Süddeutschland völlig anders aufgewachsen. Dennoch habe ich diese Welt, durch Freunde kennengelernt, die ähnlich aufgewachsen sind, wie Felix und die Jungs in "Sonne und Beton". Als ich Neukölln gezeichnet habe, war ich viel auf Google Maps unterwegs. So konnte ich mir während des Lockdowns im Internet Schulweg der Figuren durch die Hochhäuser der Neuköllner Gropiusstadt anschauen. Als man wieder reisen konnte, bin ich selber hingefahren und bin durch das Viertel gelaufen.

Felix Lobrecht: Ein Viertel, wie die Gropiusstadt gibt es nicht nur in Berlin – in jeder deutschen Stadt gibt es eine solche Siedlung.

Felix Lobrecht, wie ging es Ihnen, als Sie die Bilder der fertigen Graphic Novel das erste Mal gesehen haben?

Felix Lobrecht: Es war richtig abgefahren, die Orte meiner Kindheit in einer Graphic Novel zu sehen. Oljanna hat sie sehr detailverliebt gezeichnet. Ein schlechtes Gefühl hat es aber nicht ausgelöst. Ich habe mit Anfang 30 mit meiner Jugend abgeschlossen und bin mit ihr im Reinen. Heute wohne ich am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Verglichen mit der Gropiusstadt ist das vielleicht sogar ein Downgrade. Klar könnte ich mir auch ein eigenes Haus leisten, aber ich denke: Es hält mich auf dem Boden, hier zu wohnen.

Oljanna Haus, der Style der Graphic Novel lebt von den schönen Gesichtszügen der Figuren und dem vielen Grau der Häuserblocks: War das schon immer der Style, in dem Sie gezeichnet haben?

Oljanna Haus: Nein, dieser Style ist während ich gezeichnet habe, entstanden. Die Grautöne, in denen die Bilder gestaltet sind, kamen erst später dazu. Bei meinem nächsten Buch werde ich davon wieder Abstand nehmen, weil das viele Grau dann vielleicht nicht mehr passt. Doch zu dem Viertel Neukölln hat es gut gepasst. Es ist das Triste des Viertels, das so grau wirkt.

Felix Lobrecht: Der Style ist eine Verlängerung der Architektur der Gropiusstadt. Klare Kanten und wenig Farbe. Interessant ist aber, dass allen Menschen die schönen Gesichter auffallen.

Oljanna Haus: (lacht) Ja das stimmt, die stechen heraus.

Felix Lobrecht, was kann eine Graphic Novel ausdrücken, das ihr Roman vor drei Jahren nicht konnte?

Felix Lobrecht: Diese Graphic Novel macht meinen Roman kompakter. Alle deskriptiven Elemente fallen weg und sind nun in Bildern verarbeitet. Was übriggeblieben ist, sind ausschließlich die Dialoge der Figuren. Viele junge Schüler lesen mein Buch, weil sie sich mit diesen Figuren identifizieren können. Die Graphic Novel ist ein niedrigschwelliger Einstieg für viele, die nicht gerne lesen. Jedoch kein Buchersatz. 

Die Sprache dieser Dialoge ist sehr hart. Das N-Wort und K-Wort fallen einige Male. Auch Nazi-Parolen stehen ohne Kommentar in den Dialogen. Ist dies in erster Linie ein Buch über Jugendliche oder für Jugendliche?

Felix Lobrecht: Weder noch. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht wer dieses Buch lesen soll, als ich es schrieb. Aus der Sprache ergibt sich, dass sich viele Jugendliche abgeholt fühlen. Ich habe mir diese Sprache nicht ausgedacht, um eklig zu sein. Authentizität funktioniert über Sprache. Es stand nie zur Debatte, dass ich diese unschönen Worte rausnehme. Ich kann kein Buch über Neukölln schreiben und dann die Sprache verfälschen. Die Jungs auf der Straße sprechen eh weiter so, egal welche Wörter ich in meinem Buch schreibe oder nicht. Neukölln politisch korrekt zu machen, wäre kompletter Blödsinn. Dieses Buch sollte nie einen didaktischen Anspruch verfolgen. Doch viele Lehrerinnen aus deutschen Problembezirken schreiben mir, dass mein Buch ihre Klassenlektüre ist.

Oljanna Haus: Die Sprache ist schon krass. Ich persönlich rede nicht so, kenne aber genügend Menschen, die so sprechen. Es ist ok, dass so abzubilden.

... und ein Alltag, der unter anderem vom Wechselspiel zwischen Langeweile, Perpektivlosigkeit und Gewalt geprägt ist.
... und ein Alltag, der unter anderem vom Wechselspiel zwischen Langeweile, Perpektivlosigkeit und Gewalt geprägt ist.
© hanserblau

Was macht es mit Ihnen, dass ihr Buch demnächst wahrscheinlich in vielen Schulen gelesen wird? 

Oljanna Haus: Erst letzte Woche schrieb mir eine Lehrerin, dass sie mit ihrer zehnten Klasse mein Buch gelesen hätte. Sie hat mich eingeladen, in ihre Klasse zu kommen, um mit der Klasse über die Graphic Novel zu sprechen. Das war ein absurdes Gefühl: "Vor ein paar Jahren war ich selbst noch in der Schule", dachte ich mir in diesem Moment. Vielleicht hätte ich mir so ein Buch früher in meiner Schulzeit gewünscht.

Wie empfanden Sie die Schullektüre in ihrer Schulzeit?

Felix Lobrecht: Ich habe alles gehasst, was mit Schule zusammenhängt – auch die Schullektüre. Das war für mich ab einer bestimmten Klasse nur noch Belustigung. Ich war dort, weil ich hingehen musste. Ich denke, Schul-Literatur wirkt für viele Schüler oftmals wie aus der Zeit gefallen. Selbst auf den dritten Blick wird einem nicht klar, was man als 15 Jahre alter Junge im 21. Jahrhundert mit 'Die Leiden des jungen Werthers' zu tun hat. Ich denke, da braucht es mehr Durchmischung. In der fünften Klasse mussten wir 'Die Kinder vom Bahnhof Zoo" lesen. Das war für viele in meiner Klasse viel zu früh, schließlich wuchsen wir nicht unweit von diesem Ort auf. Dennoch hat mir dieses Buch mehr gebracht als viele andere Scheißbücher. 

Es gibt wenig weibliche Charaktere in dem Buch. Macht es das zu einem Buch für Jungs?

Oljanna Haus: Mir ist das erst sehr spät aufgefallen, als ich bei der Hälfte des Buches die erste weibliche Figur gezeichnet habe. Mich hat das aber nicht gestört. Jungs in dem Alter hängen nicht häufig mit Mädchen ab.

Felix Lobrecht: Ich wollte nicht aus der Perspektive einer 15 Jahre alten Frau schreiben. Das wäre aufgesetzt gewesen. So eine Problem-Bezirk-Geschichte aus der Perspektive einer Frau geschrieben würde ich aber gerne mal lesen.

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