Nach wenigen Minuten geben die ersten Zuschauer ihr Urteil ab. Das unbarmherzigste, das man einem Filmemacher aussprechen kann: Sie gehen. Es ist Samstagabend, Weltpremiere jenes Films, über den auf der diesjährigen Berlinale gestritten wird wie über lange keinen zuvor. Als die ersten Gewaltszenen auf der Leinwand zu sehen sind, man den Frauenmörder Honka dabei beobachten muss, wie er die Leiche zerstückelt, verlassen einige den Saal. Vornehmlich Frauen, eine nach der anderen stapft kopfschüttelnd die Treppen hinauf dem Ausgang zu – sodass man es in Reihe 15 gut sehen kann. Dort, wo Regisseur, Produzenten und Darsteller des Films sitzen.
Einen Tag vor der Weltpremiere haben der Autor Heinz Strunk und seine Freundin Ciara George-Lynch im Speisewagen des ICE 993 von Hamburg nach Berlin Platz genommen und bestellen sich jeder ein Fläschchen Riesling. "Gab schon Rum-Cola heute", sagt er und lacht. Es ist vielleicht bloß ein Scherz, schließlich hat Fritz Honka das gern getrunken. Dabei ist das Thema für Strunk eigentlich abgefrühstückt. Vor drei Jahren ist sein Erfolgsroman "Der Goldene Handschuh" erschienen, mit dem die längst vergessene Frauenmörderfigur zurück in die Öffentlichkeit drang, jener Honka, der in der Hamburger Säuferszene der 70er Jahre Frauen aus der Kneipe "Zum Goldenen Handschuh" abschleppte und umbrachte. Seit diesem Buch gilt der Autor und Entertainer Strunk als ernst zu nehmender Literat. "Das war so was wie eine zweite Karrierezündung" , sagt er. "Ein kommerzieller Erfolg und auch ein literarischer." Er hat den Stoff auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses inszeniert, inzwischen aber längst neue Projekte umgesetzt. Jetzt also die Verfilmung durch Fatih Akin. Diesen Honka wird er nicht so schnell los.
"Ich wünschte, ich würde mich mehr darauf freuen, aber so ist auch schön", sagt er. "Es wird einem nicht noch einmal passieren, dass der wichtigste deutsche Regisseur etwas verfilmt, das man verfasst hat." Spätestens jetzt gehören ihm die Ohren der Mitreisenden im Bordbistro. Man erkennt Strunk flott, er trägt diese großen Brillen mit Goldrand, seine Tätowierungen lugen aus den Hemdsärmeln hervor. Vor allem aber spricht er seinen breiten Harburger Akzent mit den Lispellauten. Er erzählt, wie Akin Interesse an dem Stoff angemeldet habe und er ihn zu einem Lokalaugenschein in den "Goldenen Handschuh" gebeten habe, wohin auch sonst. "Da gab es diesen berührenden Moment, als sich eine etwa 70-jährige Frau zu uns gesetzt hat, die stark an jene Frauen erinnerte, die damals Honkas Opfer geworden waren", erzählt er. Das sei dieser besonderen Atmosphäre dort geschuldet, in der schnell eine seltsame Distanzlosigkeit entsteht, aber eben auch Nähe. "Im Laufe des Gesprächs brach sie in Tränen aus, erzählte, wie sie ihr Mann verlassen habe und alles vor die Hunde gegangen sei. Ich glaube, das war der Moment, als Fatih beschlossen hat, diesen Film zu drehen."
Fatih Akin wollte eigentlich lieber erst einmal Urlaub machen
In den Tagen vor der Premiere war auf den Branchentreffs des Festivals das Raunen zu vernehmen, dass da Unerhörtes auf der Leinwand geschehen würde. Die gnadenlos explizit umgesetzte Geschichte des rohen und gleichzeitig verlorenen Mannes trifft die Filmbranche in einer sensiblen Phase. Der Beginn der MeToo-Debatte ist erst anderthalb Jahre her, die Geschichte bedeutet vielen mehr als nur die brutale Darstellung eines perversen Kriminellen aus der zurückliegenden Vergangenheit in Zeiten des Patriarchats.
Der Regisseur, heißt es, sei schon vor Beginn der Berlinale am Ende seiner Kräfte gewesen. Bis vor wenigen Tagen saß Akin noch an der Tonmischung. "Eigentlich müsste ich jetzt in den Urlaub", seufzt er. "Ausruhen und dann gewellnesst zur Berlinale fahren, das wär’s ..."
Doch dafür ist es zu spät. Journalisten aus aller Welt sind angereist, um ihn auszufragen, weshalb er diesen Film unbedingt habe drehen wollen. In den Fluren eines Berliner Hotels stehen die Reporter und Fernsehteams Schlange. Akin sitzt in einer Suite und stemmt sich gegen die Flut an Fragen. "Dieser Teil des Filmemachens ist für mich der unangenehmste", sagt er. "Du arbeitest kreativ, und dann musst du dein Baby ausstellen. Die Leute gucken drauf und beschmeißen es mit Steinen oder Rosen." Dass die sogenannten Steine diesmal im Übermaß fliegen werden, sei ihm klar. "Ich war bei Testscreenings, ich weiß, dass Leute rausgehen werden", sagt er. "Ungefähr sechs Prozent. Das ist eine gute Quote, sagt der Verleih." Akin weiß auch, wann die Ersten gehen: wenn Honka einer Frau ohne Vorwarnung den Kopf auf den Tisch haut. Immer und immer wieder.
"Der goldene Handschuh" bekam FSK 18
Fünf Stunden vor der Premiere müssen Akin und sein Team zur Pressekonferenz, bei der er mit harten Fragen und Kritik rechnet. Doch die meisten der mehr als 200 Journalisten loben den Film und bedanken sich für so viel Authentizität. Erst gegen Ende werden Fragen zur Gewalt gegen Frauen und zur Würde der Opfer laut. Auf einer Berlinale, die sich mit ihrem hohen Frauenanteil brüstet, mit mehr Filmen von Regisseurinnen im Wettbewerb als je zuvor, wirkt der "Handschuh" wie ein Fremdkörper, ein misogynes Kontrastprogramm.
"Das sollte ich besser nicht sagen, schließlich sollen möglichst viele Menschen in meinen Film gehen. Aber Zuschauerinnen, die ängstlich sind, kann ich ihn nicht empfehlen" , sagt Akin. Die Antwort auf MeToo könne jedoch nicht sein, dass man Gewalt an Frauen in Filmen nicht mehr darstellen dürfe. Dann erzählt er, wie er den Film ein paar Typen aus dem Hamburger Zuhältermilieu vorab gezeigt habe. "Die waren erschüttert. Vielleicht überlegen sie beim nächsten Mal zweimal, ob sie eine Frau verhauen."
Ein Vorwurf, der nach den Pressevorführungen laut wurde: Akin verwandle den Frauenmörder in ein popkulturelles Schmankerl. Gruseln mit Kultfaktor. Dazu trägt auch die Werbekampagne bei. Da wird ein Einblick in die Arbeit der Maskenbildner mit Jonas Dassler betitelt mit "So wird man zum Monster". Akin hat zudem eine Virtual-Reality-Installation entwickelt, in der man durch Honkas Wohnung streifen kann, Säge und Leichen inklusive. Als sein Film das Siegel "FSK 18" bekam, also keine Jugendfreigabe, war Akin sogar stolz: "Damit kann ich jetzt vor meinem Sohn angeben." Der 13-Jährige guckt gern Horror, für den er eigentlich zu jung ist.
Der Star des Films steht bereits vor der Premiere fest. Die Darstellung des Serienmörders durch den 22-jährigen Jonas Dassler gilt als großer Wurf. Die Nervosität ist ihm bei der Pressekonferenz anzumerken. Vielleicht auch, weil er sich einen ganz besonderen Overkill zugemutet hat: ein doppeltes Premierenwochenende, Dassler spielt auch noch Theater. Zwischen der Berlinale-Pressekonferenz und dem Schaulaufen auf dem roten Teppich muss er auf die Bühne des Gorki-Theaters.
Nachdem er die fragenden Journalisten verlassen hat, lehnt Dassler sich für einige Minuten in der Limousine zurück, die ihm die Berlinale gestellt hat, um seine Termine irgendwie hinzubekommen. Er verbindet die Musikanlage des Wagens mit seinem Smartphone, macht ein Stück von Rory Gallagher an. Es heißt "I fall apart". "Passt doch ziemlich gut", sagt er.
Er weiß, dass dies der wohl wichtigste Tag seiner bisherigen Karriere ist. Er hat zwar schon den Bayerischen Filmpreis für seine Rolle in "Das schweigende Klassenzimmer" gewonnen. Und bei der Verleihung eine so anrührende Dankesrede gehalten, dass Akin im Publikum klar gewesen war, wer seinen Honka spielen muss.
Jonas Dassler: "Unwirklich auf dem roten Teppich hier zu stehen"
Er guckt aus dem Auto auf den Berlinale-Trubel. Es sei genau fünf Jahre her, dass er nach Berlin gekommen sei, um an der Schauspielschule vorzusprechen, sagt er. Sogar das Datum wisse er noch, der 12. Februar – es war Berlinale. "Klar habe ich mich gefragt, ob ich je selbst auf diesem roten Teppich stehen würde. Es ist immer noch völlig unwirklich, dass es jetzt schon so weit ist."
Nur eine Stunde später steht er nackt auf der Theaterbühne. In der Adaption der Kafka-Erzählung "Bericht für eine Akademie" spielt Dassler einen zum Menschen kultivierten Affen. Es geht auch darum, ab wann Menschen ihresgleichen bloß als Vieh betrachten. Da ist Kafka dann gar nicht mehr so weit von den Fragen entfernt, mit denen einen Honka zurücklässt.
Das Theaterpublikum ist begeistert, hört gar nicht mehr auf zu klatschen. Dassler müsste längst los, am Potsdamer Platz warten die Fotografen. Jeder möchte den schönen jungen Mann sehen, der im Film dieser morallose Gesellschaftsverlierer ist. Die Maske habe ihm geholfen, sagt Dassler. "Als ich zum ersten Mal die Kontaktlinsen trug, die mich schielen lassen, war der entscheidende Moment. Plötzlich schauen dir die Menschen nicht mehr ins Gesicht, wenden sich ab. Ich glaube, da habe ich diese Zurücksetzung und die Einsamkeit verstanden, mit der Honka lebte."
Als die Premiere zu Ende ist, feiert das Publikum auch den Film. Der Skandal ist ausgeblieben, kein Buh durchdringt den Schlussapplaus. Doch der wichtigere Beifall fand davor statt. Er brandete durch den Saal, als eines von Honkas geschundenen Opfern zum Kühlschrank wankt, vom scharfen Senf nimmt, dem schlafenden Frauenschänder ans Geschlechtsteil schmiert und dem Schreienden zwischen die Beine tritt. Ein Moment der Erleichterung, dass sich eine gewehrt hat. Es war dieser eine Augenblick, in dem das Publikum verstanden hat.
