Und? Wie gefällt Ihnen Ihre Regierung bislang? Gut, normalerweise gewährt man einer neuen Administration hundert Tage, bevor es zu einer Bewertung kommt. Das allerdings passt nicht in eine Zeit, in der es üblich ist, reflexhaft über alles und jeden ein Urteil zu fällen. Und dies wegen der Gesetzmäßigkeiten der Aufmerksamkeitsökonomie ebenso unmittelbar wie oberflächlich, schließlich will man ja zügig gehört werden.
Afghanistan, das falsch geknöpfte Sakko eines "Tatort"-Kommissars, ein Rapper tritt einen Hund: Alles wird auf derselben Emotionalisierungsebene verhandelt – und ist deshalb auch gleichermaßen egal. Nun also die neue Regierung. Früher, da hätte Olaf Scholz die Zeit gehabt, in Ruhe seine Umzugskisten auszupacken.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Das Bild seiner Frau auf den Schreibtisch, den Gerhard-Schröder-Starschnitt da an die Wand, und wo ist eigentlich der Hängeschrank in der Teeküche, in den die Def-Leppard-Tasse reinsoll? Erst mal mit Febreze den Geruch von Tosca aus dem Polster tilgen! Aber nein, geht ja alles nicht mehr.
Die Übernahme der Regierungsgeschäfte gleicht einem Flugzeugabsturz, bei dem über die Sprechanlage mit zittriger Stimme die Stewardess fragt: "Ist zufällig ein Pilot an Bord?"
Politik der ruhigen Hand, von wegen. In der Schussfahrt wenden! Die Vereidigung als letzte Oase der Stille im Auge des Hurrikans. Klar, das waren natürlich angenehm unaufgeregte Bilder. Dieser friedliche Übergang. Ein sanftes Winken, ein paar glasige Augen, rosige Bäckchen.
Hätte Olaf Scholz heulen sollen wie Gwyneth Paltrow bei den Oscars?
Nur was hatten wir denn von Scholz erwartet? Champagnerdusche? Heulen wie Gwyneth Paltrow bei den Oscars? Es war so trocken, wie es dem Wählerwillen entsprach. Dafür eben auch kein Sturm auf den Plenarsaal, nicht einmal Armin Laschet mit Büffelhelm. Der Sturm, der ist draußen. Jeden Tag von nun an.
Annalena Baerbock brach sogleich auf Richtung "Europa" und musste sich Kritik anhören, weil sie geflogen war. Der von vielen favorisierte Cem Özdemir wäre gewiss mit dem Fahrrad nach Paris gefahren. Für die deutsche Hillary wird es ohnehin herausfordernd, einerseits die grüne Linie (unbedingtes Bekenntnis zu Menschenrechten) in den neuen Job zu tragen und zugleich klassische Regierungshaltung (unbedingtes Bekenntnis zu Menschenrechten, solange die strategischen Partner nichts dagegen haben) mitzuverkaufen. Anzunehmen, dass es unseren Kanzler (wie das klingt!) graust bei der Vorstellung, die Außenministerin zu Xi oder Putin zu lassen. Quasi wie in einer verunglückten Chantré-Reklame, in der ein Angestellter seine Frau zum Dinner beim Chef mitnimmt – und die nichts Besseres zu tun hat, als sich über Teppich und Kinder des Gastgebers zu mokieren.
Gewaltig auch das Enttäuschungspotenzial bei Karl Lauterbach, den die SPD für kolportierte 87 Millionen Ablösesumme von Markus Lanz geholt hat. Wenn die Pandemie nicht im Januar beendet ist, muss der Mann eigentlich zurücktreten!
Das ist immer blöd bei der Heldenverehrung: die irrationalen Erlösungsfantasien, die in Enttäuschung münden, wenn der Souverän mit den Beschränkungen der Macht umgehen muss. Und dem Mutantenstadl der nächsten Monate, klar. Der Natriumphobiker Lauterbach bewirkt immerhin, dass die Ersten statt Klopapier nun Salzstreuer hamstern, aus Angst, die könnten von Asketen-Karl bald verboten werden.
Ich beobachte das Ganze vom Sofa, wünsche der neuen Regierung nur das Beste und streichle zufrieden meinen sechs Kilogramm schweren Salzleckstein.
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