Völlig stolz kommt die Kleine ins Wohnzimmer gelaufen, posiert, als ginge es darum, "Let's Dance-Kids" zu gewinnen, und intoniert voller Inbrunst: "Wir kaufen dein Auto Punkt de!"
Nicht, dass sie nicht auch die Titelmelodie von "Lassie" oder den Barbie-Song beherrschen würde, aber ich gebe gern zu: Den größten Applaus bekam unsere Tochter von uns für die Intonation dieses Werbejingles.
Zum einen, weil die Melodie und der Text hundertprozentig getroffen wurden, aber eben auch, weil es so absolut absurd war.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Man hat sich daran gewöhnt, dass Vögel der Großstadt Klingeltöne imitieren, in der Hoffnung, sich mit einem Samsung Galaxy zu paaren. Dass nun aber schon die lieben Kleinen beginnen, Werbemelodien nachzuträllern, bezeugt, wie eingängig diese Liedchen sind – und wie viele davon offenbar wieder in Umlauf sind. Die Jingles sind zurück. Es wird wieder munter drauflosgeträllert, selbst wenn es um so was Banales wie Zahnpasta geht. Herrlich, wie schief und rumpelnd eine Frauenstimme von der Paste schwärmt: "Zahnfleisch okay, Zahnschmelz okay – mit Zahncreme von Oral B".
Der Kunde wird durch die Mini-Songs förmlich an die Supermarktregale getrieben. Das muss die Industrie erkannt und sich deshalb besonnen haben auf die guten, alten Zeiten, in denen auch die letzte Mortadella noch besungen wurde. Das "Weekend-Feeling" von Sahnejoghurt, "auf diese Steine", von einer Bausparkasse angeboten, "können Sie bauen" – die Welt war schon genauso schlecht und kapitalismusgefrostet wie heute, aber leichtfüßiger vertont. Und in einer Welt, in der es noch keine Kakofonie aus Youtube, Instagram und Spotify gab, war man für die Melodien vermutlich auch einfach dankbarer.
Werbejingles als das vertonte erste Date
Wir lechzten nach dem neuen Levi's- Spot und machten ihn umgehend zum Hit. Genauso hielten wir es, als eine Rum-Insel besungen wurde, und die Begleitmelodie zur Cola war für nicht wenige das vertonte erste Date.
Wenn im Rahmen eines Versicherungsspots ein dösiger Deutscher mit seinem Cabrio planlos durch Italien zuckelte und dabei Gemüsekisten wegrumpelte, wurde er dabei gesanglich eskortiert von einem Reinhard-Mey-Imitator. "Ein festes Bündnis mit dem Glück" und so.
Ja, der großartige Volker Lechtenbrink selbst ließ es sich nicht nehmen, Leute beim Genuss von Kaffee-Ersatz auf einem Acker zu besingen. Als man nach Jahren die "Merci"-Ballade umkomponiert hat, kam das schon der Vernichtung von Weltkulturerbe gleich.

Dass Melodien Folgen haben können, das wusste schon Odysseus. So kann es passieren, dass die sanft eingebrüllten Slogans von Scooter-Frontmann H.P. Baxxter einen spontan dazu verleiten, sich in einem Onlinekasino in Schleswig-Holstein einzuloggen. Aber auch das stört uns nicht.
Es sind vermutlich diese Wochen und Monate der sozialen Distanz, die unsere Standards so runterschrauben, dass wir dankbar sind für irgendeine Stimme, die durch die leeren Flure unserer Wohnungen schallt. Und sei es nur eine Frau, die freudig trällert, dass kaputte Autoscheiben schnell ersetzt werden.
Wenn meine Tochter allerdings irgendwann ins Wohnzimmer gesprungen kommt und mit süddeutschem Idiom von Seitenbacher-Müsli rappt, wird sie umgehend zur Adoption freigegeben.
Da bin ich wie Visa – die Freiheit nehm ich mir.
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