"Von guten Mächten" In Nazi-Haft schrieb Dietrich Bonhoeffer eines der bewegendsten Lieder zum Jahreswechsel

Dietrich Bonhoeffer
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) 1944 im Hof des Wehrmachtsuntersuchungsgefängnisses in Berlin-Tegel
© akg-images / Picture Alliance
Dietrich Bonhoeffer gilt als einer der wichtigsten modernen christlichen Märtyrer – wegen seines Widerstandes gegen Hitler wurde der Theologe von den Nazis hingerichtet. Im Gefängnis schrieb er ein Lied, das zum Jahreswechsel viele Menschen berührt.

Am Ende des Jahres 1944 sitzt Dietrich Bonhoeffer bereits seit mehr als anderthalb Jahren in Nazi-Haft. Wegen "Wehrkraftzersetzung" hält die Gestapo ihn im Kellergefängnis ihrer Zentrale in Berlin fest. Doch der evangelische Theologe, der unter anderem an der Planung von erfolglosen Attentaten auf Hitler beteiligt war, hat die Möglichkeit, Briefe an Freunde, Familie und seine Verlobte nach draußen zu schreiben.

Viele dieser Briefe sind veröffentlicht worden, sie gelten als eindrucksvolle Dokumente der Gefängniszeit eines der bekanntesten kirchlichen Widerstandskämpfer im Dritten Reich. Besonders das Gedicht "Von guten Mächten treu und still umgeben" bewegt viele Menschen – nicht nur in den Kirchen, in denen es gern zum Jahreswechsel gesungen wird.

Dabei schreibt Bonhoeffer die berühmten Zeilen nicht unmittelbar vor dem Jahresende, sondern kurz vor den Weihnachtstagen. In einem Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer vom 19. Dezember 1944 bezieht sich Bonhoeffer auf ein altes Kinderlied, in dem es um die Bewahrung durch Schutzengel geht. "So ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder", schreibt Bonhoeffer – und fügt das Gedicht an, das in der ersten Strophe diese guten Mächte aufnimmt. "Von guten Mächten treu und still umgeben / behütet und getröstet wunderbar, / so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr."

Dietrich Bonhoeffer im Widerstand: Darf man Hitler töten?

Bonhoeffer, geboren 1906, entstammt einer großbürgerlichen Familie und schlägt bald eine theologische Laufbahn ein. Schon mit 24 Jahren wird er habilitiert, ein Aufenthalt in den USA sensibilisiert ihn für soziale und politische Fragen. Nach der Machtergreifung Hitlers stellt sich Bonhoeffer – mittlerweile Pfarrer in Berlin – den Nazis schnell entgegen und engagiert sich in der Bekennenden Kirche, die sich gegen die Gleichschaltung der großen Kirchen durch die Nazis wehrt. Ab 1940 ist Bonhoeffer aktiv am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt: Unter anderem leitet er auf seinen Reisen geheime Dokumente an die Briten weiter und pflegt weitere Kontakte zu den Alliierten.

Intensiv beschäftigt sich der Theologe mit der uralten Frage des Tyrannenmords: Ist es vertretbar, einen Diktator zu töten, um damit viele andere Menschen zu retten? Bonhoeffer knabbert schwer daran. Die Bibel verbietet Mord in den Zehn Geboten schließlich eindeutig. Und dennoch kommt er zu einer anderen Schlussfolgerung – Hitler muss das Handwerk gelegt werden, auch mit Gewalt, notfalls durch ein Attentat.

Zur Erklärung wählt Bonhoeffer das Bild eines "Wahnsinnigen, der mit dem Auto durch die Straßen rast": "Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen." Bonhoeffers Argumentation leitet einen Paradigmenwechsel ein: Die Gläubigen, die Hitler ablehnen, sollen sich nicht nur karitativ um seine Opfer kümmern, sondern sich aktiv dem Diktator widersetzen.

"Von guten Mächten": Schmerz und Hoffnung in einem Atemzug

Den Pfarrer bringt diese Einstellung ins Gefängnis. Er ist Teil einer Gruppe um den Admiral Wilhelm Canaris, seinen Schwager Hans von Dohnanyi und seinen älteren Bruder Karl Bonhoeffer, die 1943 Anschläge auf Hitler forciert. Die Attentate scheitern, die Verschwörer werden verhaftet. Nach dem ebenfalls fehlgeschlagenen Stauffenberg-Attentat am 20. Juli 1944 findet die Gestapo weitere Beweise gegen Bonhoeffer und seine Mitstreiter, die Lage spitzt sich zu. Ohne Prozess sitzt Bonhoeffer erst im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel, dann wird er ins Gestapo-Gefängnis verlegt, als persönlicher Gefangener Hitlers. Dort schreibt er "Von guten Mächten treu und still umgeben".

In kaum einem anderen Text mischt sich so sehr alles, was das Denken und Erleben von Dietrich Bonhoeffer in dieser Zeit ausmacht. Es klingt die verzweifelte Lage in Nazi-Deutschland und in seinem eigenen Leben an, die Unsicherheit über die eigene Zukunft und die des Landes. Bonhoeffer muss ständig mit der Hinrichtung rechnen, gleichzeitig will er die Hoffnung auf die Befreiung vom Nazi-Regime nicht aufgeben. Seine Worte stehen stellvertretend für das, was viele Inhaftierte in Gefängnissen und Konzentrationslagern der Nazis im Dritten Reich durchstehen müssen: Angst, Verzweiflung, Schmerz.

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Auch im Nazi-Gefängnis verliert Bonhoeffer nicht den Lebensmut

Doch was bis heute viele Leser:innen an der Biografie von Dietrich Bonhoeffer fasziniert, ist die andere Seite, die in seinem Gedicht zum Vorschein kommt. Der inhaftierte Pastor strahlt Optimismus aus, Freude, Dankbarkeit. Eine Lebenseinstellung, die in der letzten Strophe gipfelt: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag." Ganze Generationen hat der damals 38-Jährige mit diesen Worten berührt und ihnen neuen Mut in schweren Lebenslagen vermittelt. Auch vielen nichtgläubigen Menschen ist er damit ein Vorbild.

"Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich", schreibt er im gleichen Brief an seine Verlobte. "Was heißt denn glücklich oder unglücklich. Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht." In einem Brief neun Monate zuvor an seinen Freund Eberhard Bethge, der nach dem Krieg die Texte Bonhoeffers aus dem Gefängnis gesammelt und veröffentlicht hat, erklärt er: "Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche."

Auch in Nazi-Haft verliert Dietrich Bonhoeffer nicht den Lebensmut – und er behält sein großes Herz. Bonhoeffer kümmert sich um Mitgefangene, hört sich ihre Sorgen an, betet mit ihnen, setzt sich bei den Wärtern für sie ein, so gut es geht. Wegen seiner Kontakte zu hochrangigen Nazi-Größen, die ebenfalls im Geheimen Teil des Widerstands sind, verfügt er zumindest eine Zeit lang über einen gewissen Einfluss. Wichtiger, als für sich selbst einen Ausweg zu schaffen oder über seine Situation zu klagen, ist ihm, seiner Familie und anderen Häftlingen Zuversicht zu geben.

Hinrichtung kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs

Die Gedichtzeilen gehören zum Letzten, was von Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis erhalten ist. Am 8. April 1945 wird ihm und einigen seiner Mitangeklagten schließlich doch noch ein Scheinprozess gemacht. Es gibt weder Verteidiger noch Zeugen, schriftliche Aufzeichnungen dazu existieren nicht. Bonhoeffer wird zum Tod verurteilt. Am 9. April, einen Tag später und nur vier Wochen vor der Kapitulation der Nazis, wird er im KZ Flossenbürg gehängt. Seine letzten überlieferten Worte spricht er zu Mitgefangenen, bevor er zur Hinrichtung abgeführt wird: "Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens."

Quellen:  Dietrich Bonhoeffer: "Widerstand und Ergebung. Aufzeichnungen aus der Haftzeit" / "Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943–1945"

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