Verrucht schaut sie in die Kamera. Ihre Augen sind dunkel geschminkt und weit aufgerissen, ihr Blick eindringlich. Lasziv fährt sie sich mit der Hand durchs Haar, während sie in einem Dom aus weißen Scheinwerfern steht. Im Hintergrund zucken Lichtblitze und verbreiten eine gespenstische Atmosphäre. Sie tanzt nicht, sie wiegt sich im Rhythmus der hämmernden Musik. Immer wieder senkt sie ihren Kopf leicht nach unten. Und dann ist er wieder da, dieser Augenaufschlag von unten: der Blick einer perfekten Lolita. Diese Lolita, die da am Samstagabend auf der Bühne des 56. Eurovision Song Contest stand, war keine andere als das junge Mädchen, das im vergangenen Jahr fröhlich lächelnd mit seinem Charme ganz Europa verzaubert hat: Lena.
Die "Loveley Lena" von Oslo ist einer erwachsenen Frau gewichen, die jetzt vor 37.000 Zuschauern in der Düsseldorf-Arena die Verführerin spielt. Nicht mit Gute-Laune-Pop a la "Satellite", sondern mit der mystischen Nummer "Taken By A Stranger". Mit enthusiastischen "Lena, Lena"-Rufen und riesigem Applaus wird sie in Empfang genommen. Heimspiel für Lena. Der Innenraum verwandelt sich in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer - fast so, als würde es für Deutschland gerade um die Fußballweltmeisterschaft gehen. "Mach's noch einmal Lena", schreit ein Fan. Es war ein furioser Auftritt. Doch würde Sie wirklich noch einmal Europa überzeugen können?
Ein Lena-Abend war es in jedem Fall. Punkt 21.05 Uhr stürmen 43 Lenas mit den Fahnen aller Teilnehmerländer auf die Bühne, während das Moderatoren-Trio Anke Engelke, Stefan Raab und Judith Rakers "Satellite" anstimmt. "Ich hatte Angst, dass es peinlich werden würde, aber es war wirklich witzig", sagt ein Fan hinterher. "Und die Überraschung ist auch gelungen." Die Überraschung, das war natürlich Lena. Aus den vermeintlichen 43 Doubles schlüpft irgendwann die Echte auf die Bühne. Während sie die letzte Strophe von "Satellite" singt, hält es in der ausverkauften Arena keinen mehr auf den Sitzen. Aus 37.000 Kehlen tönt es "Love, oh love" - ein ganzes Fußballstadion im Grand-Prix-Rausch.
Die Euphorie wird vor allem von den vielen mitgereisten Fans aus ganz Europa getragen. Besonders enthusiastisch waren dieses Jahr die Franzosen. Wochenland lag ihr Kandidat Amaury Vassili mit seiner wuchtigen Ballade "Sognu" auf Platz eins der Buchmacher. "Ich hoffe, dass wir nach 34 Jahren endlich wieder gewinnen können", sagt Etienne aus Nantes vor Beginn des Wettbewerbs stolz. Doch am Schluss wird er ebenso enttäuscht sein wie die britischen Fans, die auf einen Erfolg der Boyband "Blue" gehofft hatten. In ihre Union-Jack-Flaggen gehüllt trotten sie jetzt zur U-Bahn-Station, wo sie von jubelnden Italienern getröstet werden. Eine schöne Geste, wie man sie sich auch beim Fußball wünschen würde.
Verliebt in einen Schweden
Grand Prix, das bedeutet eben nicht nur Musik, sondern auch eine große Party. Und wie könnte eine Party besser aufgepeppt werden als mit zwei Verrückten. Die Zwillinge Jedward aus Irland waren mit wilden Luftsprüngen, herrlich unsynchronen Tanzbewegungen und schiefem Gesang die Publikumslieblinge der Arena. Auch die Österreicherin Nadine Beiler gehörte dazu. Ihre Gänsehaut-Ballade "The Secret Is Love" wurde mit Szenenapplaus belohnt. Verliebt aber, verliebt war die Arena nur in einen: Eric Saade aus Schweden. Auch wenn sein Song "Popular" nur durchschnittlicher Schwedenpop ist, seine Show war es nicht. Mit einer zerspringenden Glasscheibe auf der Bühne, einer genialen Tanzchoreographie und vor allem seinem charmanten Lächeln schien es so, als könnte "Mister Charming" "Lovely Lena" beerben.
Doch Eric muss bei der Punktevergabe zittern. Und die Arena zittert mit. Auch wegen ihm, aber vor allem wegen Lena. Zwei Mal ist sie bereits leer ausgegangen. Als aus den Niederlanden erstmals Punkte für Deutschland kommen, bricht Jubel aus. So schön können sieben Punkte sein. Doch auf den Satz, den alle Fans warten, warten sie heute vergebens. "Ich bin mir sicher, dass Lena 12 Punkte aus Norwegen bekommt", sagt der Deutsch-Norweger Claas. Er wird enttäuscht. Kein einziges Mal bekommt Lena zwölf Punkte. Dafür wunderbare zehn aus Österreich, acht aus der Schweiz! Danke, liebe Nachbarn!
Eine Pop-Ballade wie aus einem Disney-Film
"And twelve points go to …", heißt es dafür wieder und wieder für Aserbaidschan. Das Duo Eldar und Nigar scheint Europa mit einem Liebessong in seinen Bann gezogen zu haben. "Running up scared" ist eine Popballade, die aus einem Disney-Film stammen könnte. So wunderschön schnulzig, dass sie sofort verfängt. Eldar und Nigar spielen das Liebespaar auf der Bühne so perfekt, dass sie bei den Proben in Düsseldorf ständig gefragt wurden, ob sie auch privat ein Paar seien. Mit Windmaschine und einem mächtigen Feuerregen am Schluss werden sie bombastisch in Szene gesetzt. Sehen so Sieger aus?
Ja! In einem Herzschlag-Finale setzen sie sich schließlich gegen Eric Saade durch. Und welche Überraschung: Italien feiert nach 14 Jahren der Abstinenz ein fulminantes Comeback und schiebt sich mit einer Jazz-Nummer "Madness Of Love" von Raphael Gualazzi noch vor Schweden auf Rang zwei. "Damit hätte ich nie gerechnet", sagt ein deutscher Fan. "Wer mag schon noch gestopfte Trompeten hören." Trösten können sich die Schweden immerhin damit, dass der Siegersong aus der Feder von drei schwedischen Komponisten stammt. Auch wenn die Eurovsions-Karawane im kommenden Jahr nach Baku zieht, der Sieg geht damit auch ein bisschen an die Heimat der Abbas.
"Wir werden gute Gastgeber sein"
Und was sagen die Fans zum ersten Sieg Aserbaidschans? Das Lied sei schön, die Interpreten sehr sympathisch - besonders Elgar, der fünf Sprachen spricht, darunter auch Deutsch, hat in Düsseldorf bei sämtlichen Pressekonferenzen punkten können. Aber im nächsten Jahr in einer Quasidiktatur zu feiern, sei problematisch. "Wir werden gute Gastgeber sein", verspricht hingegen der aserbaidschanische Delegationsleiter. Es wird wohl noch viel diskutiert werden müssen.
Für Lena reicht es mit 107 Punkten am Ende nur für einen zehnten Platz. Aber Deutschland kann trotzdem stolz sein. Es war ein wunderbarer Abend. Technisch aufwändig und brillant gestaltet, mit einer guten Pausenshow von Jan Delay und einem Moderatoren-Team, bei dem vor allem Anke Engelke höchste Anerkennung verdient hat. "Oslo toppen, das können wir nicht", hatte Thomas Schreiber, NDR-Unterhaltungschef und für den ESC in Düsseldorf verantwortlich, gesagt. Doch das obligatorische Lob "it was a lovely evening", es war auf keinen Fall gelogen.
Als Eldar und Nigar in einer bombastischen Konfettiwolke noch einmal ihr "Running up scared" schmettern, schreit einer: "Lena, du warst trotzdem die Geilste." Auch das war nicht gelogen. Am Ende aber hat sich Europa an diesem 14. Mai 2011 aber nicht für einen mystischen Popsong, sondern für die Liebe entschieden.