Anzeige
Anzeige

Eine Verteidigung Madonna zeigt, warum Kunst keine Frage des Alters ist

Mit ihrer Musik beeinflusst Madonna seit Jahrzehnten die Popkultur. 
Mit ihrer Musik beeinflusst Madonna seit Jahrzehnten die Popkultur. 
© Nicholas Hunt / Getty Images
Madonna ist jetzt 60 – und weigert sich, diese Zahl ihr Leben oder ihre Musik beeinflussen zu lassen. Richtig so, findet stern-Autor Jochen Siemens. Denn wer glaubt, dass Popkultur und Kunst etwas mit dem Alter zu tun hätten, hat nichts verstanden.

Madonna ist genauso alt wie ich, und wir waren sehr viel jünger, als wir uns einmal begegneten. Es war – so etwas vergisst man nie – eine samtwarme Sommernacht in Budapest, wir saßen auf einer Parkbank am GellértBad und blickten auf die im Licht golden funkelnde Donau. Sie trug noch das Kostüm der Evita Perón, die sie hier in einem Film spielte, und war zwar müde, aber selbst bei einer müden Madonna blitzt ihr ganzer Geist hellwach aus ihren Augen. Die Szene klingt jetzt romantischer, als sie war. In Wahrheit war es ein Interview nach Drehschluss und wenig Zeit, aber wir waren fast allein am Set, nur Regisseur Alan Parker war da, und Antonio Banderas lief noch herum. Wir sprachen über sie und über Evita, aber über eines sprachen wir nie: über das Alter.

Auf ihrer Instagram-Seite schrieb Madonna, sie fühle sich von dem Text "vergewaltigt"

Diese Anekdote ist nun plötzlich wieder relevant geworden. Ich bin mit Madonnas Hits wie "Material Girl", "Papa Don’t Preach" oder "Vogue" erwachsen geworden, damals war es die Musik, von der wir alle spürten, dass sie unsere Biografien sozusagen umranken würde wie wilder Wein. Dass wir und sie dabei älter wurden, war bei Madonna nicht einmal ein Splitter eines Gedankens. Es gibt in ihrem sehr großen Repertoire ein paar Songs, die mit Erinnerungen spielen, aber es gibt kein einziges Lied, das Wörter wie "old" oder "age" im Titel hat. Wer mit Madonna oder auch mit Mick Jagger, Bruce Springsteen oder Bob Dylan aufgewachsen ist, der mag den Satz von Groucho Marx: dass älter werden kein Problem ist, solange man lang genug lebt.

Nun aber hat Madonna, deren 14. Album "Madame X" jetzt erschienen ist, für ein Porträt mehrmals mit der "New York Times" gesprochen. Sie dachte wohl, es würde etwas über ihre Kunst und ihre Weltsicht werden, davon erzählt sie immer gern. Sie nimmt sich als Madonna sehr ernst, vielleicht ein wenig zu ernst in diesen neuen, pop-flüchtigeren Zeiten. Dann erschien der Artikel im Magazin der "New York Times" mit der Überschrift "Madonna mit 60". Und Madonna: tobte. Wütete. Auf ihrer Instagram-Seite schrieb sie, sie fühle sich von dem Text "vergewaltigt", was angesichts wirklicher Vergewaltigungen und in Zeiten von #MeToo ein schlechter Vergleich ist, der ahnen lässt, dass bei Madonna die Maßstäbe etwas schief sind. Aber das Wort "vergewaltigt" mal beiseite – ich kann sie verstehen.

"Lebe einfach dein Leben, lass dich nicht von der Gesellschaft beeinflussen"

Es sind diese Nachfragen: Wie sie sich nun fühle mit 60, was sie denn noch erreichen wolle, und das Bedauern der Journalistin, mit Madonna nicht über die Wechseljahre sprechen zu können, und auch eine glitschige Bemerkung wie "als sie älter war, hatte sie manchmal 30 Jahre jüngere Liebhaber" . Diese Fragen und Gedanken reduzieren Madonna Louise Ciccone auf die fortgeschrittene Zeit, mit der sie und auch alle anderen ihres Alters leben. Madonna selbst konterte in der "New York Times" noch mit dem wissenden Satz über das Älterwerden: " Das ist ja beinahe wie ein Verbrechen." Sie richtete diesen Satz nicht gegen eine Gesellschaft, die ihre alten Menschen in Heimen verdorren lässt, sondern genau gegen die Jüngeren, die den Kopf schütteln, wenn sie Madonna in Korsagen, Netzstrümpfen oder was ihr sonst so einfällt auf der Bühne sehen.

Altwerden wird nur akzeptiert, wenn Frauen dann so aussehen wie die kurzhaarig ergraute Joan Baez oder die vom Leben verwitterte Patti Smith. Madonna findet, "man sollte aufhören, so viel über das Älterwerden nachzudenken. Lebe einfach dein Leben, lass dich nicht von der Gesellschaft beeinflussen" . Das klingt nur für diejenigen wie ein Allgemeinplatz, die den ganzen Tag damit verbringen, ihr Wimmern über die laufende Zeit in "Best ager"-Gerede und "im Alter lebt es sich viel freier"-Mantras umzuwandeln. Für alle anderen ist Madonnas Rat eine einfache, simple Wahrheit.

Seit 36 Jahren liebt die Welt Madonna oder hasst sie - mit schwankenden Mehrheiten 

Auch Mick Jagger eliminiert in Interviews jeden Versuch, seine 75 Jahre anzusprechen, mit einem lächelnden Nichts. Wer nicht versteht, dass Kunst, Literatur und Popkultur nichts, wirklich überhaupt nichts mit dem Alter zu tun haben, hat Kunst nicht verstanden. David Hockney, der große Maler, ist 81 Jahre alt. Julian Schnabel, der gerade einen Film über van Gogh gemacht hat, ist 67. Interessiert das jemanden? Nein.

Madonna sagte auf die Frage, was sie noch vorhabe: sie wolle "direkt zum Mond." Yeah, beste PopAntwort überhaupt. Die Reporterin der "New York Times" fand die Aussage dagegen vage. Gnädig titelte auch das deutsche Magazin "Musikexpress" in diesem Monat: "Warum die Queen of Pop nicht abdanken darf". Ah ja? Hatte sie auch nicht vor.

Es ist so: Madonna Louise Ciccone, das einstige Mädchen aus Michigan, katholisch erzogen und zeitweise Schülerin an einer Klosterschule, floh aus der Provinz und kam Ende der 70er Jahre nach New York, wollte Tänzerin werden, tingelte durch Clubs und tanzte zu den Demo-Aufnahmen ihrer ersten, selbst geschriebenen Lieder. 1982 bekam sie einen Plattenvertrag und hatte dann mit "Holiday" ihren ersten großen Hit. Seitdem, also seit 36 Jahren, kennt die Welt Madonna. Und seitdem, wenn auch mit schwankenden Mehrheiten, mag die Welt sie oder hasst die Welt sie.

Sie war eine Frau, allein, nicht das kalkulierte Projekt irgendwelcher Musikmanager oder Plattenfabriken

Anfangs waren es die Moralhüter, die gegen Madonnas provozierendes Spiel mit religiösen Motiven und Bad-Girl-Attitüde Sturm liefen, dann, Mitte der 80er Jahre, brachte sie Sozialpuristen mit demonstrativ zur Schau gestelltem Spaß am Reichtum ("Material Girl") gegen sich auf, entmachtete die Autorität von Vätern ("Papa Don’t Preach"), um sofort danach Jesus als Lustobjekt ("Like a Prayer") zu entdecken. Neu war damals, dass Madonnas Lieder nicht nur aus dem Radio oder von der Platte kamen, sondern dass sie jeden dieser Songs auf MTV mit immer wieder provozierenden Videoclips illustrierte. Und: Sie war eine Frau, allein, nicht das kalkulierte Projekt irgendwelcher Musikmanager oder Plattenfabriken. Bis Mitte der 90er Jahre lieferte Madonna Hit nach Hit, sie alle aufzuzählen würde Seiten füllen.

Sie war, gemeinsam mit Michael Jackson, Whitney Houston und später Prince, der größte Popstar der 80er und der 90er Jahre. Mit ihrer einzigartigen Fähigkeit, Mode und musikalische Stile schnell und immer perfekt zu wechseln, war sie Vorreiterin vieler musikalischer Richtungen. Sie beherrschte alles: von Disco über Pop bis House, von Balladen zu Chansons, von der verruchten Bühnen-Schlampe bis zur ehrwürdigen Darstellerin der Evita Perón. Viele spätere Stars wie Britney Spears, Lady Gaga oder Taylor Swift gibt es wohl nur, weil Madonna dieses Feld des weiblichen Pop überhaupt erst bestellt hat. Und viele Freiheiten in der Welt der Schwulen und Lesben wären heute vielleicht nicht so selbstverständlich, wenn es nicht auch Madonnas unablässige Botschaften gegeben hätte, dass es egal ist, wer wen warum liebt.

Ihre Botschaften sendete Madonna schon immer in provokanten Outfits, wie hier für die AIDS-Forschung 1987. 
Ihre Botschaften sendete Madonna schon immer in provokanten Outfits, wie hier für die AIDS-Forschung 1987. 
© PETER MORGAN/AP / Picture Alliance

Dieser Ruhm und die Macht, alle Regler des Musikgeschäftes bedienen zu können, ließen Madonna zu einer gigantischen Show-Maschine anwachsen. Klein kannte sie nicht. Sie selbst stilisierte sich zu einer fast unnahbaren Diva, die dann wieder völlig unerwartet den Sex als Show entdeckte und 1992 auch in einem Bildband seitenlang fast pornografisch inszenierte. Sie brauchte die Show. Ihre Tourneen glichen gigantischen Zirkusrevuen mit unzähligen Tänzern, viel Tamtam und Bühnen wie Kirmesplätzen. Madonna pur, "unplugged", wie MTV damals reine Akustikkonzerte erfand – so gab es sie nicht. Es ist noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt ein Instrument wirklich gut beherrscht.

Madonna beim ESC: Wie ein lang erwarteter Startschuss für die Kritiker 

Wie anachronistisch dieser Show-Gigantismus werden kann, konnte man nun im Mai während ihres Auftritts beim "Eurovision Song Contest" in Israel beobachten. Noch 2012 schaffte es Madonna mit einer Giga-Show beim amerikanischen Super Bowl, ein Stadion zum Kochen zu bringen. 2019 wirkte ihr Auftritt mit einer 65-köpfigen Crew, vielen Kostümen und theatralischer Überladenheit wie ein Schwall dicker, schon antrocknender, klumpiger Farbe. Hinzu kam eine schlechte technische Aussteuerung ihrer Stimme, die Queen of Pop klang dünn und müde. Das verwunderte umso mehr, weil Madonna normalerweise solche Auftritte mit Doubles so lange akribisch probt, bis sie im kleinsten Detail stimmen. "Madonna fordert zehn Varianten von allem" , erzählte mal ein Bühnendesigner.

Überladene Show, schwache Stimme: Für ihren Auftritt beim "Eurovision Song Contest" im Mai in Tel Aviv erntete Madonna viel Häme 
Überladene Show, schwache Stimme: Für ihren Auftritt beim "Eurovision Song Contest" im Mai in Tel Aviv erntete Madonna viel Häme 
© Michael Campanella / Getty Images

Und so war es wie ein lang erwarteter Startschuss für die Kritiker, die mit Häme über Madonna herfielen und endlich das Thema hatten, von dem sie glaubten, es hinge reif am Baum: Madonna ist alt. Dass Auftritte auch mal technisch misslingen können oder dass dünne, schlecht ausgesteuerte Gesangsstimmen bei Konzerten von beispielsweise Britney Spears und anderen fast Standard sind, wurde nicht erwähnt.

Nein, die Jagd auf das baldige Fallobst Madonna war eröffnet. Sie musste sich allen Ernstes fragen lassen, ob es sie manchmal einsam mache, nach dem Tod von Michael Jackson, Whitney Houston und Prince überlebt zu haben. Zynisch könnte man sagen, dass wohl nur ein früher Tod vor solchen dummen Fragen schützt. Und was soll sie sagen? "Ja, es kann einsam sein, wenn man wie unter einem Mikroskop betrachtet wird" , erzählte sie kürzlich dem "Zeit-Magazin".

Nun, das war früher auch so, nur haben sich die Vorzeichen verändert. Social Media feiert selten den Ruhm und das Gelingen, sondern sucht lieber die Fettnäpfe und Fallgruben. Damit muss Madonna, wie viele andere auch, leben. Mit dem einen Vorteil, dass sie noch weiß, wie es mal anders war. "Ich glaube, Instagram wurde nur entwickelt, damit man sich schlecht fühlt" , sagte sie der britische Zeitung "The Sun" neulich. Früher, in analog langsameren Zeiten, sei das besser gewesen. "Dadurch hatte ich die Zeit, mich als Künstlerin und Mensch zu entwickeln, ohne den Druck zu spüren, ständig von anderen Menschen beurteilt zu werden und mich mit anderen zu vergleichen." Dass sie selbst auf Instagram 14 Millionen Followern regelmäßig Bilder liefert, muss dabei kein Widerspruch sein, denn würde sie es nicht machen, wäre sie: alt.

Ihr neues Video zu "God Control": Ein Schocker 

Wie sehr Madonnas Kunst und Provokation heute auf eine neue, ihr fremde Empfindsamkeit treffen, zeigte in der vergangenen Woche das Video, das sie zu ihrer Single "God Control" veröffentlichte. Es ist, das muss man so sagen, ein Schocker. Im Clip wird gezeigt, wie ein Mann mit einem Schnellfeuergewehr in einer Diskothek reihenweise Menschen erschießt, Madonna sitzt dazu an der Schreibmaschine und versucht verzweifelt, die richtigen Worte zu finden. Erinnern soll das Video an den Anschlag in dem von vielen Homosexuellen besuchten Nachtclub "Pulse" 2016 in Florida, bei dem ein Attentäter 49 Menschen erschoss. Madonna macht aus dem Song und dem Video einen brutalen Appell. Wie sie Disco-Spaß und Blutbad in schnellen Bildern gegeneinanderstellt, macht das Werk zu den eindringlichsten, und, wenn man das sagen kann, besten Protesten gegen Waffenbesitz. Doch was früher eine Provokation war, stößt heute auf Kritik. Es sei "schwer anzuschauen" wenn man wirklich dabei war, kommentierten Betroffene das Video, die Bilder "noch einmal dramatisiert für Klicks auf Youtube zu sehen – das fühlte sich sehr unsensibel an" , so eine andere Überlebende. 

Hier zeigt sich, wie die veränderte Welt Madonna heute missversteht. Denn für Klicks auf Youtube hat sie "God Control" nicht gemacht. Madonnas Kunst ist älter – hier darf das Wort wirklich einmal fallen. Sie kommt aus einer Zeit, als es Youtube noch nicht gab. Aus einer Zeit, als Künstler wie Madonna ernst meinten, was sie sagten. Wenn das "alt" ist – dann ist es eben so.

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel