Wenn man Michael Stipe trifft, fällt einem erst mal auf, dass er kleiner und schmaler ist als man ihn sich ohnehin vorgestellt hat. Er hat etwas zerbrechliches an sich. Und wenn er spricht, dann schaut er einen nicht immer an; wenn er es doch tut, wirkt er noch zerbrechlicher. Er spricht leise, langsam, manchmal stottert er sogar ein wenig. Man kann sich in diesem Moment den Leadsänger der Band R.E.M. mal wieder gut vorstellen als den geborenen Melancholiker, als den ewig Zweifelnden. Er aber sagt: "Ich bin jetzt sehr, sehr glücklich."
"Die Songs sind mir aus der Hand geflossen"
Er steht dann auf und läuft durch eine Suite des Tribeca Grand Hotels in Manhattan. Stipe tritt ans Fenster so heran, wie man bei strömenden Regen ans Fenster tritt; in einem Zustand von aufgekratzter Beschaulichkeit, in dem man Geräusche und Gerüche wahrnimmt, die einen sonst nicht berühren. Er sagt: "Diese neue Platte hat mich keine Kraft gekostet, verstehst du, ich habe aus ihr Energie gezogen, weil ich, weil wir dieses Mal nicht lange nachgedacht haben. Wir haben sie einfach gemacht." Alles sei so leicht gewesen. Sie hätten noch nie so wenig Zeit zum Einspielen gebraucht. "Die Songs", sagt Stipe, "sind mir aus der Hand geflossen."
Das neue Album
"Accelerate" ist der mittlerweile 14. Longplayer von R.E.M. und erscheint am 28.03.2008 bei Warner Music
Ausgerechnet ihm, der so viel Wert auf die Texte legt? Zuletzt waren sie ihm doch zu salbungsvoll, zu verkopft geraten. "Ja, das stimmt", sagt er. Stipe dreht sich um und setzt sich wieder hin. Es ist das einzige Lächeln, das er einem schenkt. "Dabei möchte ich, dass die Leute mich verstehen. Ich muss wohl vom Weg abgekommen sein."
In den 90er Jahren, als R.E.M. als die beste Rockband der Welt galt, schuf Stipe wunderbare Zeilen wie bei "Losing my religion", wo es diese unsterbliche, verstörende Stelle gibt: "Oh, no, I've said too much. I haven't said enough".
Zu den Konzerten reisten sie getrennt an
Eine Zeile, die auch gut die Beziehung zwischen Michael Stipe und seinen zwei Bandkollegen Peter Buck und Mike Mills beschreibt. Seit 28 Jahren sind sie schon zusammen, was im Rockbusiness gefühlte 150 Jahre sind. Sie gelten als die Unzentrennlichen, nur Schlagzeuger Bill Berry verließ 1997 nach einer Gehirnblutung die Band. Doch die anderen drei hatten sich zu viel gesagt oder zu wenig, auf jeden Fall sprachen sie nicht mehr miteinander. Nicht als Freunde, nicht als Bandmitglieder. Zu den Konzerten fuhren sie in getrennten Bussen.
Sie waren dabei, sich zu verlieren, spätestens bei ihrer vorletzten Platte, "Around the sun", das war 2004. Das Album war schwermütig und langatmig. Stipe hatte sich verzettelt, wollte zu viel oder zu wenig, vielleicht weiß er es heute selbst nicht mehr. Sie bekamen einige achselzuckende Kritiken, was eine Band wie R.E.M. mehr trifft als echte Verrisse.
Peter Buck, der ungeduldige Gitarrist, den man an diesem Tag eine Viertelstunde vor Stipe treffen durfte, hatte gesagt: "Ich liebe Michael. Aber ich glaube, er hatte ein wenig den Focus verloren. Für mich aber ist das wichtigste, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert. Ich wollte dieses Mal ein Rockalbum machen, ein richtig geiles Rockalbum."
"Wir reden jetzt wieder miteinander"
Mike Mills, der besonnene Bassist, den man eine Viertelstunde nach Stipes sprechen darf, wird sagen: "Wir reden jetzt wieder miteinander - und vielleicht sogar besser als vorher. Dieses Album hat uns etwas zurückgegeben, was wir vielleicht ein wenig verloren hatten."
Michael Stipe selbst sagt: "Wir haben uns entschieden, wieder ganz von vorne zu beginnen."
Auch alte Freunde sind manchmal noch für Überraschungen gut
Und so klingt "Accelerate" auch. Es ist die 14. Studio-Platte ihrer Karriere, und es ist vielleicht die aufregendste der letzten 15 Jahre. In ihren besten Momenten erinnert sie sogar an "Lifes Rich Pageant" aus dem Jahr 1986.
Auf jeden Fall ergeht es einem beim Hören so, als hätte man am Straßenrand auf einen guten, alten Freund gewartet, der einen mitnehmen soll auf eine kleine Tour; der Freund ist in die Jahre gekommen und man ist sich sicher, dass er mit einem gemütlichen Geländewagen vorfahren wird - und dann braust er mit dem Motorrrad an. Er reißt einen mit, es ist so wie früher, man ist ganz berauscht. Und wenn es vorbei ist, möchte man, dass es gleich wieder von vorne losgeht.
Viele der elf Stücke auf "Accelerate" sind kürzer als drei Minuten; die ganze Platte dauert nur 34 Minuten.
Zum Glück hat R.E.M. aufs Publikum gehört
Michael Stipe und seine beiden Kollegen haben viel riskiert, um wieder ein besseres Gefühl für sich selbst und für ihre Musik zu bekommen. Im Sommer spielten sie die noch unfertigen Songs bei vier Konzerten in Dublin vor. Stipe las die Texte vom Laptop ab, Mills machte sich am Ende Notizen. Mills sagt: "Wir merkten dabei schnell, ob ein Lied funktioniert oder nicht. An welcher Stelle, wir das Tempo anziehen müssen."
Es gibt da zum Beispiel den Song "Mansized Wreath", Track 2 von "Accelerate". Die Band dachte, er sei schon okay, aber nicht gut genug fürs Album. Sie spielte ihn trotzdem, und die Zuschauer waren begeistert. Manchmal ist es eben gut, wenn man auf sein Publikum hört.