Man könnte zum Beispiel die Welt retten. Ein bisschen halt. Hennen aus Legekäfigen befreien, Frauen aus Selbstfindungskursen und Männer aus Feinripp-Unterwäsche. Jedenfalls könnte man so viel anders und so viel besser seine Zeit verbringen, als sich in Casting-Shows herumzutreiben. Aber die Menschen tun es. Casting-Kandidat-Sein ist, zumindest gefühlt, der Deutschen allerliebstes Hobby, nur noch Shopping ist angesagter.
Während man aber beim Shoppen kaum Schaden anrichten kann, außer dem Vordermann auf der Rolltreppe übervolle Tüten in den Unterschenkel zu rammen, droht von Shows wie "Voice Of Germany" ungleich größeres Ungemach. Wäre dieser Begriff nicht so ernsthaft besetzt, würde man von Terror sprechen. Träller-Terror. Müsste man deshalb nicht noch viel mehr Überwachungskameras aufstellen? Und die Kontrollen an den Flughäfen verschärfen? Nicht nur Nackt- sondern auch Stimmband-Scanner installieren? Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, übernehmen Sie!
Die Lage ist ernst. Und wird mit jeder neuen Show ernster. Ein besonderes Gefahrenpotenzial geht, und die Hinweise verdichten sich seit Donnerstagabend, von ProSieben und Sat.1 mit "Voice Of Germany" aus. Zunächst nämlich gab man sich betont harmlos, unauffällig wie eine Hobby-Aquarellmalerin mit zwei Katzen, doch inzwischen zieht die Eia-Popeia-Masche nicht mehr. Unterm Schafspelz knurrt der Wolf.
Einer ist immer bloß Staffage
Natürlich, die Kandidaten werden immer noch nicht in Dieter-Bohlen-Manier niedergebrüllt. Stattdessen aber schicken die Coaches jeweils ihren Liebling ins Rennen, holen noch einen Zweiten mit dazu, angeblich auch ein Liebling, und sagen diesem, dass sie auch an ihn glauben und dass er, wenn er sich denn anstrengt, "den Laden rocken" kann.
Im Grunde ist der weniger chancenreiche Kandidat aber nur Staffage, seine Lage so aussichtsreich wie die von Günther Jauch wenn er gegen einen der Klitschkos kämpfen würde. Doch irgendwer muss ja mit in den Ring -siehe Bühnenbild - steigen. Der Gesangswettbewerb soll nämlich Assoziationen mit einem Boxkampf wecken - mit "The Battle" sind die Duelle tituliert. Und wer es bei den Battles schafft, der kommt in die Liveshows. Eine Stimmlänge voraus waren diesmal Benny, Joe, Yasmina, Behnam, Natascha, C.Jay, Max, Mic und Dominic. Die Vornamen sollten an dieser Stelle genügen, man ist amerikanisch, unkompliziert, selbstverständlich per Du. Wer es dennoch genau wissen will: Die Familiennamen finden sich auf den Fahndungslisten.
Boss Hoss - die Betreiber eines Tattoo-Studios?
Eigentlich, Terrorentwarnung, hätte Schluss sein können mit dieser TV-Folter. Denn nach dem Auftritt von Patricia, Mic und Dilan mit "It´s A Man´s World" urteilte Coach Rea Garvey von "Reamon": "This is the voice of Germany." Hätte man ruhig mal Ernst nehmen und die Sache vorzeitig beenden können. Aber nichts da. Stattdessen blühte der Größenwahn, fast so schön wie wir es von dem Herrn Baron zu Guttenberg kennen. Coach Xavier Naidoo, erstaunlich überzeugt von der 1-A-Qualität der eigenen Show, teilte Seitenhiebe aus: "Andere Casting-Shows würden aus euch Dreien eine ganze Staffel machen."
Die Coaches von "The Boss Hoss", Alec Völkel und Sascha Vollmer, die eher so aussehen als würden sie ein Tattoo-Studio betreiben, mussten verbale Sidekicks von ihren Kollegen einstecken, als sie ihr Duo Charlie und C.Jay mit dem Song "Kids", im Original von Robbie Williams und Kylie Minogue gesungen, gegeneinander antreten ließen. Rea moserte: "Das ist das falsche Lied." Xavier nölte: "Das hat mich nicht so sehr berührt." Und die Interpretin selbst, Charlie, eigentlich gar nicht so ohne, war von dem Song so begeistert wie Paris Hilton von einer Bundestagsdebatte. "Was ist die Botschaft von dem Song", rätselte Charlie. Und: "Der Text ist komisch geschrieben." Nach ihrem Aus dann das Bekenntnis: "Ganz ehrlich, ich hasste den Song von Anfang an." Ganz ehrlich: Das war nicht zu übersehen.
Nena in Dauer-Euphorie
Wer dort wohnt, wo Fanel Pakete zustellt, muss sich nicht sorgen. Der Paketdienst läuft weiter, Fanel nämlich konnte sich mit dem Song "Tears In Heaven" nicht gegen Tabak-Tester Behnam behaupten. Coach Nena setzte auf "ihre" Männer, weil "die sich trauen, Gefühle zu zeigen". "Ich bin in euch beide verliebt", so die Sängerin in ihrer Dauer-Euphorie.
Nur selten flaute ihre Überdrehtheit ab, Ken und Benny aber gelang ein unerwarteter Nena-Dämpfer. "Ich habe keine Verbindung zu einem von euch beiden gekriegt", urteilte sie nach deren Auftritt. Recht hatte sie diesmal. Insbesondere Ken sollte auf den Fahndungslisten ganz oben stehen, denn seine Stimme ist noch immer schwer beschädigt aus seiner Boygroup-Zeit: Übertrieben, künstlich. Rea Garvey hatte dazu einen seltenen Geistesblitz: "Ken hat Erfolg gehabt, jetzt hat er keinen mehr, da muss man sich fragen warum."
Solokarriere ade, auch für eine andere recycelte Teilnehmerin, für Laura, Sängerin der 90er-Jahre-Formation "Captain Jack". Sie nahm es entschlossen, aber erfolglos mit dem rehäugigen Max auf. Und fand es nur logisch, dass sie, und zwar nur sie, gewinnen sollte: "Max ist noch so jung und kann es noch öfter in Casting-Shows versuchen." Was bitte soll das denn heißen? Werden Casting-Shows sogar den Euro überleben? Muss denn erst wieder etwas Schlimmeres passieren, damit endlich erste Anti-Casting-Gesetze erlassen werden? Man mag über Politiker denken, was man will, aber hier haben sie endgültig versagt.