"2010! Menschen - Bilder - Emotionen" bei RTL Vielseitigkeitsparcours mit erhöhter Einschlafquote

  • von Ingo Scheel
Während Fernseh-Deutschland sich noch vom Schock der "Wetten, dass..?"-Sendung erholt, ging es für Gottschalk-Kollege Jauch schon wieder auf Sendung: Millionengewinner, Polizeiopfer, verschüttete Bergleute, die Katzenberger, der Guido und der Thilo - so oder ähnlich soll das Jahr 2010 gewesen sein.

Es ist noch gar nicht so lange her, da geriet der Jahresrückblick einst zum medialen Fixpunkt zwischen Nikolaustag und Weihnachtsgeschenke-Umtausch: Mehrteiler von Jack London, Vierschanzentournee und Menschen des Jahres - die heiligen drei TV-Könige im Dezember. Anno 2010 gibt es allein schon drei Jahresrückblicke, da ist Kondition und Konzentration gefordert. Auf SAT.1 hat Kerner als erster auf das noch nicht ganz vergangene Jahr zurück geschaut, am Sonntag nun setzte Günther Jauch auf RTL die drei Ausrufezeichen: Menschen! Bilder! Emotionen! Satte 200 Minuten lang, fein säuberlich verschnürt in Sechs- bis Acht-Minuten-Päckchen, wuchs hier wieder einmal zusammen, was irgendwie schon und doch wieder nicht zusammen gehört.

Wer sich gegen "Tatort"-Tradition entschieden hatte und Richtung RTL zappte, der löste sein Ticket für einen Parforce-Ritt durch das kollektive Gedächtnis: Jenen Ort, an dem die Thesen von Thilo Sarrazin ebenso ihren Platz haben wie Daniela Katzenbergers Möpse,die Tore von Poldi ebenso wie der Krebs von Sylvie van der Vaart. Dazu hier eine Prise Priester-Sex, dort ein Bergwerk-Wunder, das Sommermärchen WM und der Sommer-Alptraum Love Parade - so ein Jahr kann ganz schön lang werden, selbst auf etwas mehr als drei Stunden zusammendampft. Das wird sich auch Günther Jauch gedacht haben, sah der doch schon zu Beginn der Sendung so verschlafen aus, wie sich seine Zuschauer erst drei Stunden später fühlen sollten. Wer gegen 23.30 Uhr die eingeschlafene Hand auf die Off-Taste der Fernbedienung fallen ließ, um mit wirrem Haar gen Schlafzimmer zu schleichen, der hatte wahrlich einiges hinter sich gebracht.

Millionäre aus Fußball und Fernsehen

Ralf Schnoor etwa, den Gewinner aus "Wer wird Millionär?", der auch eine Woche nach der richtig beantworteten Millionenfrage immer noch ein sympathischer Kerl ist. Oder Sylvie van der Vaart, die Jauch so begrüßt, wie man ehemals Krebskranke eben begrüßt, wenn die Zeit knapp ist: "Na, alles wieder gut?" Aber sicher, Günther. Alles klar, alles gut. Sogar die Haare sind wieder nachgewachsen. Ein Zwillingspaar rettet anschließend einen Zuckerschockierten. Schnitt. Werbung. Durchatmen. Danach Fußball, der einzige Themenkomplex, dem hier eine satte Viertelstunde Sendezeit zugestanden wird. Neuer, Lahm, Podolski sitzen im Studio, Thomas Müller grinst per Live-Schaltung von der Leinwand. Eben noch Sommermärchen, jetzt schon verpasste Meisterschaft und Abstiegskampf - die Löw-Buben schlugen sich dennoch solide. Lego-Fußball, Thomas Müllers Oma, dann wieder Werbung. Henkell Trocken setzt einen stimmungsvollen Akzent: "Auf das Leben" lautet der Slogan.

Westerwelle und das Phrasenschwein

Besser hätte auch Gerhard Delling nicht auf das Thema Love Parade überleiten können. Zwei Überlebende berichten von ihren dramatischen Erlebnissen in Duisburg, Jauch jedoch wirkt zunehmend abwesender, wohl in Erwartung seines nächsten Gastes, den es zu überstehen gilt. Auftritt Guido Westerwelle: Man hat kaum Erdnüsschen nachgefüllt, da hat der FDP-Mann schon die Worte Höhen, Täler, Rückenwind, Gegenwind und Steherqualität in nur einem einzigen Satz untergebracht. Ein Phrasenschwein für den einstigen 18-Prozent-Mann könnte an nur einem Abend das Finanzloch von zwei bis drei Bundesländern füllen.

Wider die wachsende Müdigkeit zieht Jauch jetzt das Tempo an: Autoschlüssel durchbohren Handflächen, ein augenscheinlich verwirrter Musikfan mit Pudel-Dauerwelle tanzt per epileptischem Techno-Pogo das eingenickte Studio-Publikum wieder wach. Thilo Sarrazin nuschelt ein paar Halbsätze, Daniela Katzenberger spricht über Körbchengrößen, James Blunt - was macht der eigentlich in dieser Sendung? - falsettiert durch seine neue Single, die so klingt wie die alte. Der obligatorische Fernsehkoch ist diesmal Christian Rach und als der 66-jährige Dietrich Wagner, Opfer eines polizeilichen Wasserwerfers in Stuttgart, von seinen Augenverletzungen erzählt, kann man seine Worte in Teilen nachvollziehen. Auch die eigene Sehkraft hat ob der Menschen! Bilder! Emotionen! der vergangenen drei Stunden merklich nachgelassen.

Jetzt noch eine hektisch montierte MAZ, um doch noch Vollständigkeit oder irgendetwas in der Art hinzubekommen, dann ist es geschafft: Irgendwo zwischen Krake Paul und Sebastian Vettel wird kurz um Loki getrauert, winkt Lena ins Publikum, sackt die Erde ein, verloben sich William und Kate, seufzt Jörg Kachelmann, weint ein chilenischer Bergmann, atmet der RTL-Zuschauer tief durch. Wenigstens musste niemand ins Krankenhaus.

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