Das Porträt über Harald Jäger erschien in der stern-Printausgabe Nr. 44 am 23. Oktober 2014.
Werneuchen ist ein guter Ort für einen Helden, der keiner sein will. Oder sagen wir, für einen Mann, der aus Versehen zu einem Helden wurde. Die Stadt hat knapp 8000 Einwohner. Sie liegt bescheiden und still im brandenburgischen Sand. Dort, wo Gaststätten mit Rouladen nach Hausfrauenart locken und die Schweinshaxe mit Sauerkraut noch 4,30 Euro kostet. Wenn man will, so ist man schnell in Berlin, an der Bornholmer Straße zum Beispiel. Doch Harald Jäger will selten. Wenn er die Wahl hat zwischen dem Nichts und der Hauptstadt, dann fährt der 71-Jährige lieber mit Ehefrau Marga in seinen Kleingarten mit dem selbst gebauten Bungalow. Denn hier erinnert ihn jeder Schornsteinziegel daran, wie er für ihn anstehen musste oder wo er ihn erkungelt hat. Und dann freut es ihn.
Er hat mit "Staatsicherheit" abgeschlossen
Manchmal fährt Jäger auch mit seinem blauen Suzuki zum Angeln an einen der Seen ringsum und räuchert die Beute anschließend im Garten. An den Stasi-Veteranen- Abenden, wie sie manche seiner alten Genossen in der Stadt noch pflegen, nimmt der ehemals stellvertretende Leiter der Ost-Berliner Grenzübergangsstelle (GÜST) Bornholmer Straße und Oberstleutnant der Passkontrollstelle (PKE) niemals teil. Nein, nein, das Kapitel "Staatssicherheit" ist für ihn in beinahe jeder Hinsicht abgeschlossen.
Bis zum 9. November 1989 hatte der Genosse Major noch geglaubt, auf der richtigen Seite der Grenze zu sein. Bei den Guten. Wie stolz er war, als die ihn 1963 vor der Truppenfahne fotografierten! Eine Ehre war das. Gerade 20 war Jäger damals und hatte sich zwei Jahre zuvor als Freiwilliger zur NVA gemeldet, zur Nationalen Volksarmee. Er wollte die Grenze im Thüringer Wald vor dem Klassenfeind schützen oder die an der Ostsee. Das war sein Traum. Er kam nach Berlin. Drei Jahre Grenze, 25 Jahre Grenzübergang, dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterstellt. Es war ein grauer Alltagstrott aus Schießbefehl, Fluchtgefahr und Passkontrolle. Mit 44 kriegt er irgendwas am Darm. Vorstufe Krebs, sagt der Arzt. Aber das ist eine andere abgeschlossene Geschichte.
"Was erzählt denn der für ’n Dünnschiss?"
An jenem Novemberabend 89 jedenfalls, der heute als Zäsur in der Geschichte aller Deutschen gilt, sieht Harald Jäger in der Wache "Bornholmer Straße" gegen sieben im Kantinen-Fernseher, wie Günter Schabowski vom Zentralkomitee der Einheitspartei in einer Pressekonferenz vor ausländischen Journalisten die neue Reiseregelung für DDR-Bürger verkündet, nach der diese – "sofort, unverzüglich" – auch ohne gültiges Visum ausreisen dürften. "Was erzählt denn der für ’n geistigen Dünnschiss?", empört sich Jäger. Ja, er ist richtig sauer und brüllt seine Wut heraus! Und er will von denen da oben sofort und unverzüglich wissen, wie das gemeint ist und was er jetzt machen soll.
Es ist oft erzählt und berichtet worden, wie sich in Nullkommanix Menschentrauben vor Jägers Zaun bildeten. Menschen, die nach West- Berlin wollten. Nur, es hatte niemand dem Genossen Major mitgeteilt, ob er die auch rauslassen durfte. Jäger telefonierte über Stunden verzweifelt erfolglos mit seinem Plaste- Apparat herum, um einen Befehl zu bekommen. Egal, welchen – irgendeinen! Aber die Herren im Ministerium und in der Parteizentrale stellten sich tot. Jäger und Jägers Leute hielten indes die Grenze in Schach. Bis kurz nach 23 Uhr. Bis er sich sagen hörte: "Macht den Schlagbaum auf!" Bis sie der Menschenflut ihren Lauf ließen. Wie leicht das heute klingt! Wie einfach! Es war die Revolution. "Darüber, dass das am Ende so friedlich über die Bühne ging, bin ich froh", sagt der Grenzer, "und ooch so ’n bissel stolz."
Er habe danach "alles gründlich aufgearbeitet", erzählt Jäger. Die eigene Schuld, die er darin erkennt, dass er das System jener Zeit unterstützt und gutgeheißen habe, ist bereut. Die Lügen, die er sich nicht getraut hatte, "Lügen" zu nennen, sind erkannt. Und dann der ganze andere Mist. Dass er zuließ, wie sie seinen Sohn Carsten von der Oberschule verstießen, nur weil er einen verrotteten Eisenbahnwaggon mit Silvesterraketen beschossen hatte. "Und dann die Phrasen, die ich mitgedroschen habe", staunt Jäger über Jäger: "Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben!" Was für ein Selbstbetrug! Doch 46 Jahre lang hat er alles mitgetragen. Das Äußerste, was Harald Jäger sich an Systemkritik je gestattet hatte, war, wenn sie bei den „kollegialen Zugvergnügen“ alle Mann rumspintisierten, wie sie den nächsten Betriebsausflug auf die Insel Bornholm machen würden. Dänemark, was für ein Witz!
Raus aus Berlin, weil die Rente nicht reicht
Keine Frage, Genosse Jäger war ein Hundertfuffzigprozentiger. Und, dass er heute reden kann, wie er darüber redet, war harte Arbeit. Er habe sich neu programmieren müssen, sagt er. Er wähle jetzt SPD, höre Beatles und fühle sich als bundesdeutscher Fußballweltmeister. Und er wohnt hier in Werneuchen ganz gut, der Held wider Willen. In einem hell gestrichenen Mietshaus nahe dem Bahnhof. Gute 40 Quadratmeter, "Wohnstube, Schlafstube, Küche und Bad, beides mit Fenster", sagt Jäger.
Vor acht Jahren zogen sie her, denn alles, was Harald Jäger begonnen hat, nachdem er als Grenzsoldat abdanken musste, war zu Ende gegangen, ohne ihm zu größerem Wohlstand verholfen zu haben. Erst war da der Zeitungskiosk, den er an der Danziger Straße aufgemacht hatte, später der Job als städtischer Wachmann in der JVA und im Kraftwerk Rummelsburg. Beide Male war ihm seine Stasi-Vergangenheit in den Job gegrätscht. So muss er heute mit 940 Euro Rente zu Rande kommen. Eine Wohnungsmiete in Berlin war da nicht mehr drin. Also sind Marga und er vor acht Jahren weg aus der Hauptstadt, weg von den Erinnerungen an die Bornholmer Straße, an der er in mauergrauer Uniform ein Vierteljahrhundert lang aufgepasst hatte, dass niemand von seinen Brüdern und Schwestern unbefugt aus dem goldenen Sozialismus rübermachte in den kalten Kapitalismus. Und nun ist das auch schon wieder ein Vierteljahrhundert her, dass er da stand.
Öffnete Grenze quasi im Alleingang
Manchmal hat er die Straße, die Zeit fast schon ein bisschen vergessen, wenn er im Garten Stangenbohnen aufbindet oder das Lindenlaub aus den Kakteen harkt. Aber immer gibt es jemanden, der ihn erinnert. Schulklassen, Briefschreiber, Reporter. Neulich waren Schüler aus Denver bei ihm und haben sich staunend angehört, wie es damals hinter Grenze und Mauer war, ohne Freiheit, ohne Burger King. In Denver ist er jetzt ein Freiheitsheld. Der Mandela aus Werneuchen. Irgendjemand dort hat ihn nun eingeladen, er solle nach Colorado kommen und erzählen, wie es so war. Im Frühjahr, wenn sich der Rummel um den Mauerfall und die Verfilmung des Mauerfalls gelegt habe, wollen Marga und er hin.
Jägers Lebensgeschichte gibt es jetzt als Film. Nicht das ganze Leben des Genossen Major natürlich, nur das Filetstück. Der Moment größter Beherztheit, in dem er als diensthabender Dienststellenleiter ohne Befehl und Billigung von oben und quasi im Alleingang die Grenze öffnete. Diese eine Schrecksekunde, in der er sein Land DDR und alles, woran er bis dahin geglaubt hatte, mit einem Schubser verloren gab. Als alles dahin war und alles vorbei. Nein, Jäger trauert der Zeit nicht nach. Beim besten Willen nicht. Im rundlich unterfütterten Gesicht des Rentners sind weder Gram noch Bitterkeit zu erkennen. Er wird zur Premiere "seines" Films in Berlin über den roten Teppich schreiten, so gut er kann. Alles ist gut. Und doch kann man sagen, dass Harald Jäger für das, was er damals für das Richtige hielt, bis heute mit dem besseren Teil seines Ruhms bezahlt.
Ach, und noch etwas. Seine erste Urlaubsreise nach der Wende hat Jäger übrigens erst spät gemacht. Im Sommer 91. Sie ging, logisch, nach Bornholm.