Wo war Anne Will am vergangenen Montag? Nicht in Chemnitz. Nicht vor Ort, als um die 7500 gewaltbereite Neonazis durch die Innenstadt marschierten, mit Hitler-Gruß, Drohgebärden und aggressiven Sprechchören. Und da Anne Will nicht da war, sollte sie besser ihren Mund halten. So natürlich sagt es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer nicht. Aber als die Moderatorin in ihrer Sendung "Chemnitz und die Folgen" bezweifelt, dass der Staat sein Gewaltmonopol habe halten können, wehrt sich der CDU-Politiker entschieden: "Frau Will, Sie waren nicht nah genug dran, um die Sache einschätzen zu können." Und er bestand immer wieder darauf, egal, wer ihm verbal in die Quere kam: "Sie kennen die Fakten nicht." Niemand der Anwesenden, nicht Wolfgang Thierse, nicht Petra Köpping, nicht Serdar Somuncu, nicht Olaf Sundermeyer, wüssten, wann welches Fax gekommen sei und wie die genauen Abläufe waren. "Wir sitzen hier in einer Talkshow, alle haben keine Ahnung", fasste er zusammen.
Kein Eingeständnis, nirgends.
Wenn alle also so ballaballablöd sind, dann wäre doch jetzt die Gelegenheit, vor versammelter Runde und dem TV-Publikum Einblicke zu geben. Machte Michael Kretschmer aber nicht. Auch wenn Anne Will ihn aufforderte, dass auch er, wie alle anderen Gäste, "belegen" müsste. Denn, so die Moderatorin: "Wir müssen uns nicht überall auskennen, wir stellen Fragen." Die Fragen kommen auf, weil zu wenig Polizeibeamte im Einsatz gewesen waren und es tätliche Angriffe und Verletzte gab. Der Ministerpräsident aber blieb dabei, man habe das Gewaltmonopol nicht den Rechtsradikalen überlassen. Kein Eingeständnis, nirgends. Höchstens um Verständnis werbend: "Die Mobilisierung im Internet war so nicht vorhersehbar." Da half auch nicht, dass der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ihn ermunterte: "Es ist keine Schande, Fehler zuzugeben."

Olaf Sundermeyer, haha, war aber da. Als Rechtsextremismus-Experte kennt er zig Naziaufmärsche deutschlandweit. Was am Montag passiert sei, sei nicht zu entschuldigen, es habe sich um "Behördenversagen" gehandelt. Sein Fazit: "Die Rechten haben die Hoheit in Sachsen." Allerdings hätte sich über die Tage überraschend schnell etwas getan. Denn die Einsatzkräfte am vergangenen Samstag hätten, so der Experte, "hervorragende Arbeit" geleistet. Sundermeyer gestand dem Ministerpräsidenten außerdem zu, dass sich unter dessen Ägide die Situation in Sachsen gewandelt habe, man gehe mehr mit den Menschen ins Gespräch, schaue sich die Probleme endlich an. Das sieht auch Petra Köpping so, die von einer "neuen Qualität in Sachsen" sprach. Auch sie suche regelmäßig das Gespräch, lasse sich von den Sorgen der Bürger erzählen. Und höre immer wieder, dass sich viele Chemnitzer nicht in die rechte Ecke stellen lassen wollen. Schade nur, dass Anne Will sich die Sorgen der verunsicherten Bürger nicht mal in ihrer Talkshow anhört.
Integriert die Ostdeutschen
Sind das Problem wirklich die flüchtenden Menschen? Oder gärt da nicht was anderes? Der Dialog mit den Bürgern habe Köpping auch verdeutlicht, dass da "viele Verletzungen" seien. Viele Menschen im Osten hätten Probleme mit sich selbst, fühlten sich angehängt. Ihr würde oft gesagt: "Integriert erstmal uns." Thierse bestätigte, es sei wichtig die Ostdeutschen im eigenen Land zu integrieren. Man müsse wegkommen von der "Fixierung auf Flüchtlinge". Denn wenn sich die Debatte ausschließlich auf die Flüchtlinge konzentriere, sei man in die Falle gegangen, die die Rechten aufgestellt hätten. Kretschmer gab trotzdem zu bedenken, dass es ein "Asyl-Defizit" gäbe: "Bei den Abschiebungen läuft was nicht richtig." Er wies auf andere Themen hin wie Rente und Zukunft der Arbeit, darüber müsse man sprechen. Auch sonst hätte es noch mehr Hintergründe gebraucht, und zwar direkt in der Sendung. Ein User im Internetforum zur Sendung drückte es so aus. "Definitiv fehlte wieder einmal ein Experte, der die psychologischen Zusammenhänge hätte darlegen und so die Diskussion auf ein solides Fundament hätte stellen können."
Somuncu vermisst die Kirche
Der Kabarettist Serdar Somuncu appellierte an das Gebot der Nächstenliebe. Er sagte: "Wo ist jetzt die Kirche." Nicht nur die Stunde der Gläubigen sieht er gekommen, sondern auch die der AfD: "Warum zeigt sie nicht, dass Sie Teil eines demokratischen Systems ist?" Thierse dazu, nach vorne gelehnt: "Weil sie es nicht ist." Auch in Sachen Willkommenskultur schepperte es zwischen den beiden Talkgästen. Somuncu sieht in Merkels "Wir schaffen das" eine "übergestülpte Doktrin", Thierse widersprach entschieden, tausende Bürger hätten freiwillig geholfen. Die Kontrahenten Somuncu und Thierse trafen sich schließlich wieder beim finalen Appell, die Menschen sollten respektvoll miteinander umgehen. Es genüge nicht, so Somuncu, wenn mal wieder zig Konzerte gegen Rechts stattfänden und ein Udo Lindenberg ins Mikrofon rülpse: "Nazis raus."