Talk bei "Anne Will" Flächenbrand Nahost? Gäste diskutieren über Terror in Israel – doch die Sendung hat eine Schwäche

  • von Andrea Zschocher
Arye Sharuz Shalicar, Sprecher des israelischen Militärs,
Arye Sharuz Shalicar, Sprecher des israelischen Militärs, im TV-Talk bei "Anne Will"
© Wolfgang Borrs / NDR
"Droht ein Flächenbrand in Nahost?", fragte Anne Will die Gäste ihrer Sendung. Die sehr fachkundige Talkrunde hatte keine einfachen Antworten auf den Terror in Israel. Und in der Besetzung fehlte eine Stimme.

Seit einer Woche steht Israel unter Schock. So sagte es der Sprecher des israelischen Militärs, Arye Sharuz Shalicar, bei "Anne Will". Der aktuelle Konflikt sei "der neue Jom-Kippur-Krieg" seiner Generation, von dem er seinen Nachkommen berichten werde, fasste er die Fassungslosigkeit, die Trauer und die Emotionen, die der Terror-Angriff der Hamas auf Israel ausgelöst hatte, zusammen. Anne Will stellte ihre Sendung unter die etwas größer gegriffene Frage "Nach dem Terror-Angriff auf Israel – droht ein Flächenbrand in Nahost?".

Zu Gast bei "Anne Will" waren:

  • Natalie Amiri, Journalistin, leitete von 2015 bis 2020 das ARD-Studio in Teheran
  • Kevin Kühnert (SPD), Generalsekretär
  • Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist
  • Gerhard Conrad, ehemaliger BND-Beamter mit Schwerpunkt Nahost
  • Arye Sharuz Shalicar, Sprecher des israelischen Militärs
  • Im vorher aufgezeichneten Interview: Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin des Auswärtigen

Das Ziel der Bodenoffensive Israels im Gazastreifen sei es ausdrücklich nicht, Zivilisten zu töten, sondern die "Hamas zu vernichten", erläuterte Militärsprecher Shalicar in der Sendung. Um zivile Opfer zu vermeiden, müssten sich die im Gazastreifen lebenden Palästinenser auf den Weg in den Süden machen. Denn wenn die Menschen nicht weggingen, sei das in erster Linie ein Vorteil für die Hamas. Diese würde dann Bilder getöteter Zivilisten, unter ihnen viele Frauen, Kinder und alte Menschen, medial nutzen. Alle bei Anne Will im Studio sitzenden Gäste stimmten dieser Aussage des aus Israel zugeschalteten Shalicar zu.

Sollte die Hamas "Bilder von blutenden Kindern" für ihre Zwecke nutzen, könnte in der Folge die Solidarität mit Israel kippen, sagte die Journalistin Natalie Amiri. Denn es sei davon auszugehen, dass eine israelische Bodenoffensive nicht nur zwei oder drei Tage, sondern Wochen andauere. Kinder würden von der Hamas als lebende Schutzschilde benutzt, führte die Journalistin weiter aus, um gemeinsam mit den anderen in der Runde zu erklären, dass nicht die Palästinenser Ziel einer Bodenoffensive seien, sondern die Terror-Organisation Hamas.

Annalena Baerbock bei "Anne Will": Israel wird jede Hilfe bekommen

Anne Will hatte vor der Livesendung ein Interview mit Außenministerin Annalena Baerbock geführt. Es habe Gespräche mit Ägypten gegeben, die noch nicht erfolgreich gewesen seien, erklärte die Grünen-Politikerin in diesem. Kontakt zu den deutschen Geiseln konnte das Außenministerium auch noch nicht herstellen. "Jegliche Hilfe, die Israel braucht, wird sie von Deutschland bekommen", so Baerbock, die damit sowohl militärische als auch psychologische Hilfe für die vielen Familien meinte, die vom Terror betroffen sind. Sehr eindrücklich berichtete die Außenministerin von einem Mann, dessen Frau und Kinder von der Hamas entführt wurden. "Das könnten wir alle sein", mahnte sie und erklärte: "Der Kern dieser Katastrophe ist der Terror der Hamas". Dieser Terror müsse bekämpft werden.

Zwei Frauen verstecken sich hinter Auto, links israelischer Polizist
Feuergefecht zwischen IDF und Hamas – Frauen werden im letzten Moment gerettet

"Anne Will" hätte eine palästinensische Stimme gut getan

Diskutiert wurde in der Sendung zudem darüber, inwiefern eine Bodenoffensive Israels im Einklang mit dem Völkerrecht stünde – auch mit Blick darauf, dass es aktuell zwar heißt, dass der südliche Gazastreifen für die Zivilbevölkerung sicherer sei, die Hamas die Menschen aber daran hindere, in diesen Teil zu gelangen. Historiker Michael Wolffsohn erklärte: "Das Völkerrecht ist hervorragend geeignet zum Bekämpfen der Blattlaus". Es sei in dieser Situation eben nur theoretisch anwendbar, die Praxis sei aktuell eine andere. "Das Gesetz des Krieges ist Mord und Totschlag." SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert warf ein, dass das Völkerrecht auch dadurch wirke, dass darüber gesprochen werde.

Was der fachkundigen Talkrunde leider eklatant fehlte, war eine Vertreterin oder ein Vertreter der palästinensischen Seite. Sicher hätten sich Palästinenser gefunden, die den Terror der Hamas ablehnen und Sorgen um ihre Landsleute haben. Die hätten berichten können, wie das Leben im Gazastreifen aktuell aussieht. Auch wenn Natalie Amiri in der Sendung erläuterte, dass die Hamas alles unternehme, damit es aus dem Gazastreifen keinerlei unabhängige Berichterstattung gibt.

Zur Frage nach einem möglichen Flächenbrand in der Region war die Talkrunde uneins. Einig waren sich alle, dass die Situation gefährlich und der Iran momentan der politische Sieger sei. "Ich glaube, dass Iran kein Interesse daran hat, dass es ein Flächenbrand wird. Aber sie zündeln ganz schön", fasste Amiri die Lage zusammen, sagte aber auch, dass das vor allem das Regime beträfe. Die Bevölkerung stehe "auf der Seite des Friedens". Amiri forderte, die Iran-Politik zu überdenken. "Das Atom-Abkommen ist gescheitert. Wieso hält man die Regierung noch bei Laune mit Appeasement-Politik?", fragte sie.

Weitere Themenpunkte:

  • Mit der Hamas reden? Der Experte Conrad erklärte, dass Gespräche mit der Führung der Hamas in Katar oder in der Türkei aus seiner Sicht nichts bringen würden, weil die politische und militärische Führung in Gaza unabhängig von ihr agiere.
  • Alternative zur Bodenoffensive? Michael Wolffsohn hält eine Bodenoffensive für "einen politischen und militärischen Fehler". Seiner Meinung nach müsste es eine "elegantere" Lösung geben, die vor allem voraussetzt, dass Partner vor Ort sich beteiligten.
  • Hat Deutschland die Hamas finanziert? Nach dem Interview mit der Außenministerin lenkte Wolffsohn den Blick noch auf die Frage, ob die "Brutalität" der Hamas nicht "von uns mitfinanziert" worden sei. Er hätte im Interview "Selbstkritik dieser und der vorangegangenen Regierung" zu diesem Punkt vermisst. Kühnert gab an, dass das Palästina-Portfolio das sei, das am besten überprüft würde, aber dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass Hilfen abgezweigt worden seien. Shalicar wurde in diesem Punkt recht deutlich und berichtete, dass auch mit Hilfen aus Deutschland nicht die Zivilbevölkerung unterstützt, sondern Hamas-Kämpfer und ihre Familien bezahlt worden seien.
mth