Die Fragestellung, unter die "Anne Will" ihre Talksendung stellte, war durchaus interessant. Auch die Gästerunde versprach einen guten Austausch mit vielen unterschiedlichen Positionen. Allein, wenn die Moderatorin es nicht schafft, die Redezeiten der Anwesenden gleichmäßig zu verteilen, dann leidet am Ende die gesamte Veranstaltung. Das Thema am Sonntag war: "An der 'Belastungsgrenze' – Schafft Deutschland eine bessere Flüchtlingspolitik?"
Zu Gast bei "Anne Will" waren:
- Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin des Innern und für Heimat
- Victoria Rietig, Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
- Isabel Schayani, Journalistin und Moderatorin ARD "Weltspiegel"
- Markus Söder (CSU), Parteivorsitzender und Ministerpräsident von Bayern
- Frank Rombey (parteilos), Bürgermeister der Gemeinde Niederzier/NRW
Die ernüchternde Antwort auf Wills Frage: Vermutlich schafft Deutschland das mit der besseren Flüchtlingspolitik auf absehbare Zeit nicht. Vor allem, weil sich Politiker*innen mehr mit Profilierungsgehabe aufhalten als mit Inhalten. Weil es scheinbar mehr darum geht, die jeweils andere Partei auf Versäumnisse hinzuweisen, als gemeinsam an einem Strang zu ziehen.
Der Schlagabtausch zwischen Nancy Faser und Markus Söder an diesem Abend war schwer erträglich, insbesondere auch deswegen, weil er wirklich keinerlei Erkenntnisgewinn für die gesamte Debatte bereithielt. Ein Verhalten, das vielen Bürger*innen aus der Bundespolitik bekannt sein dürfte und wirklich sauer aufstößt.
Herausforderungen für die Gemeinden sind groß
Der Bürgermeister der Gemeinde Niederzier, Frank Rombey, berichtete am Anfang der Sendung sehr ausführlich von den Herausforderungen, mit denen seine Gemeinde gerade zu kämpfen hätte. Fehlender Wohnraum, schlechte medizinische Versorgung, mangelnde Bildungsmöglichkeiten seien die dringlichsten Problem, die allesamt nicht sofort behoben werden könnten. 847 Geflüchtete hat die Gemeinde aufgenommen, er hätte noch für fünf weitere Menschen Platz. Mit der Bezirksregierung hätte er einen vierwöchigen Aufnahmestopp vereinbart, 14 Tage sind davon noch übrig.
Er wisse "noch nicht genau, was ich in 14 Tage tue", so Rombey, der gleichzeitig betonte, wie viel "tolle ehrenamtliche Arbeit" in der Gemeinde geleistet wurde. Aber die sei an ihre Grenzen gestoßen durch die zusätzliche Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. Es ginge momentan nur darum, "Obdachlosigkeit zu vermeiden". Und auch das gelinge nicht, denn die neuen Einrichtungen müssen erstmal gebaut werden.
Frank Rombey ist also jemand, der sich tagtäglich mit der Herausforderung, die Migration bedeutet, beschäftigt. Und der trotzdem nicht von einer Obergrenze sprechen möchte, nicht für einen Aufnahmestopp Deutschlands plädiert. Er wünscht sich wie auch Isabel Schayani vor allem Lösungsvorschläge, die nicht den Populisten in die Hände spielen, gleichzeitig die "mentale Verfasstheit unserer Gesellschaft" aber mitbedenken. Beste Voraussetzungen also für Nancy Faeser und Markus Söder bei "Anne Will" zu zeigen, dass sie echte Lösungen entwickeln können fern von Allgemeinplätzen.
Beide haben diese Chance allerdings verstreichen lassen, haben sich stattdessen im Wahlkampfmodus verstrickt und immer mit dem Finger in die andere Richtung gezeigt. Es lässt sich eigentlich nur als albern bezeichnen, wie beide immer wieder darauf beharrten, dass das Gesagte des jeweils anderen so nicht stimmen würde (Faeser zu Söder) oder dass das Gesagte nicht überzeugen würde (Söder über die Diskussion im Ganzen).
Eine wenig überzeugende Diskussion
Ein "mich überzeugt die Diskussion bisher nicht wirklich" hat allerdings selten dazu geführt, dass Gespräche versachlicht wurden. Zumal auch Markus Söder keine Argumente vorbringen konnte. Stattdessen beharrten alle Teilnehmenden auf ihren Positionen. Nancy Faeser erläuterte mehrfach, dass es ja Gespräche mit Ländern geben würde, um Rückführungs- und Abschiebeverfahren zu erleichtern und Außengrenzen zu schützen.
Eine feste Obergrenze für Geflüchtete, die Zahl von 200.000 Menschen pro Jahr steht ja im Raum, hält Faeser für falsch. Es sei ihrer Meinung nach schlicht nicht umsetzbar, sich auf eine konkrete Zahl zu einigen, denn es gelten auch europäische Gesetze und die Genfer Menschenrechtskonvention. Sollte es hier international zu Verstößen kommen, müsste Deutschland flexibel reagieren, so, wie es auch im russischen Krieg gegen die Ukraine geschehen sei.
Markus Söder machte sich für einen ganzen Maßnahmenkatalog stark: Es brauche neben der Obergrenze auch ein Konzept für einen Grenzschutz, ein Stopp- und Sonderaufnahmeprogramm, mehr Rückführung, die Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten und das Vermeiden von monetären Anreizen wie dem Bürgergeld. Die Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Victoria Rietig, sah es ähnlich.
Sie sprach von "ganz vielen Migrationspuzzleteilen" die stringent verfolgt werden müssten, um erfolgreich zu sein. Den "praktischen Effekt" einer Obergrenze sieht sie "gen null" strebend. Sie gab aber auch zu: "Wir überschätzen massiv", was einzelne Puzzleteile wirklich leisten können, das Zusammenspiel sei entscheidend.
Weite Teile der Diskussion bei "Anne Will" drehten sich im Kreis, Söder warf Faeser vor, Wahlkampf zu betreiben, die konterte mit dem gleichen Vorwurf. Und beide haben recht und waren deswegen sehr ungeeignet für diesen Talk. Denn es ging ihnen mehr darum, einen Punkt gegeneinander zu machen, als in Richtung einer Lösung zusammenzuarbeiten.
Isabel Schayani verdeutlichte dies, als sie darauf hinwies, dass der deutsche Pass nachvollziehbarer Weise attraktiv ist. Natürlich kann es passieren, dass da auch Menschen von angezogen werden, die lügen. Aber sie fragte auch Richtung Markus Söder: "Wie soll jemand [aus Afghanistan, aus dem Iran] hierherkommen? Es muss humanitäre Wege geben", Schutz anzubieten. Momentan scheint die Lösung zu sein, alle Geflüchteten unter Generalverdacht zu stellen und Migration zu verhindern.
Weitere Themenpunkte:
- Sach- statt Geldleistungen? Frank Rombey gab an, vor seiner Zeit als Bürgermeister in der Verwaltung gearbeitet zu haben. Für ihn wären Sach- statt Geldleistungen eine Alternative, die einen monetären Anreiz zur Flucht bekämpfen würde. Markus Söder sprang auf diesen Zug auf und berichtete von Chipkarten, mit denen Geflüchtete in Bayern vielleicht ab demnächst einkaufen gehen könnten.
- Zentralisierung von Rückführung: Aktuell herrscht auch bei der Geflüchtetenpolitik der Förderalismus. Eine Zentralisierung von Rückführung und Abschiebung könnte für mehr Flexibilität und Effizienz sorgen, so Victoria Rietig. Die oft zitierte Flüchtlingspolitik Österreichs hätte damit gute Erfahrungen gemacht.
- Zahlen richtig interpretieren: Dänemark und Österreich halten aktuell als Beispiele dafür her, dass die Politik auch anders auf Geflüchtete reagieren könnte. Rietig gab zu bedenken, dass die geringeren Zahlen in Österreich auch eine direkte Folge von geänderten Fluchtrouten sind, die nun direkt in Deutschland münden. Gleiches gilt für Dänemark. Rietig gab ebenfalls zu bedenken, dass manches "rhetorisch aufgebauscht" würde, beispielsweise das Gefängnis in Kosovo, das erst noch gebaut werden müsse.
Anne Will hatte ihren Talk über weite Teile nicht unter Kontrolle. Statt denen mehr zuzuhören, die aus der Praxis berichten können, räumte sie Nancy Faeser und Markus Söder unnötig viel Platz in ihrer Sendung ein. Dabei hatten die wenig Erhellendes zur Gesamtsituation beizutragen. Es ist für Zuschauende oft auch nicht nachvollziehbar, wer da nun mehr von Faktentreue hält, denn auch politisch interessierte Menschen haben nicht jedes Detail der letzten acht Jahre Flüchtlingspolitik parat.
Wenn Faeser und Söder aber über Feinheiten aus dieser Zeit streiten, bleibt am Ende Ratlosigkeit und Unwille zurück. Das spielt letztlich Populisten in die Hände, und das kann und darf niemals eine Lösung sein. Der Bürgermeister der Gemeinde Niederzier brachte am Ende der Sendung auf den Punkt, was viele Zusehende gedacht haben werden: "Ich bin fassungslos, wenn ich diese Diskussion hier heute Abend gesehen habe. Ich persönlich habe mir Lösungen erhofft, ich habe keine Lösungen bekommen." Stattdessen erklärt Rombey: "Ich bin ernüchtert." Ein echtes Armutszeugnis für eine Sendung, die doch das Ziel hatte, Lösungsansätze wenigstens zu diskutieren.