Zu den wichtigsten politischen Themen bekommen russische Staatsmedien Anweisungen aus dem Präsidentenapparat. "Metoditschka" werden diese schriftlichen Richtungspapiere genannt, in denen die Propagandisten des Kremls die roten Fäden der Berichterstattung vorgeben. Zeitungen, Online-Medien und Fernsehkanäle setzten die Handreichungen anschließend in ihren Kanälen um.
Das Papier zu dem Krieg in Bergkarabach gelangte jetzt an die Öffentlichkeit, das regierungskritische Online-Medium "Meduza" veröffentlichte es. Die Schuld an der brutalen Blitzeroberung des Gebiets durch Aserbaidschan, heißt es darin, trage ausgerechnet Aserbaidschans Erzfeind Armenien, das eigentlich ein Opfer dieses Krieges ist. Und natürlich der Westen, der in russischer Lesart immer Schuld hat, wo Unrecht und Gewalt geschehen. Russland hingegen rette als unabhängiger Beobachter heldenhaft die Menschen, die in Bergkarabach leben.
So erklärt der Kreml den Russen, wieso Moskaus Friedenstruppen jetzt tatenlos dabei zusahen, wie Aserbaidschan die armenischen Verteidiger von Bergkarabach zur Kapitulation zwang.
Dabei hätten die russischen Friedenstruppen Aserbaidschan eigentlich abschrecken und dafür sorgen sollen, dass das 2020 ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen eingehalten wird. Außer den armenischen und aserbaidschanischen Präsidenten hatte es damals auch der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. Das Abkommen sicherte die Existenz der Separatistenrepublik Arzach: In Bergkarabach leben vorwiegend Armenier, es gehörte ursprünglich aber zu Aserbaidschan. Russland verpflichtete sich damals, sowohl die Republik als auch den Korridor zu Armenien mit seiner Truppe zu schützen. Doch Aserbaidschan brach das Abkommen, und das russische Außenministerium gab sich zerknirscht: Angeblich sei es erst Minuten vor dem Überfall informiert von Aserbaidschan informiert worden.
Armeniens Ministerpräsident ist dem Kreml ein Dorn im Auge
In Wirklichkeit jedoch dürfte Russland den Angriff billigend in Kauf genommen haben: Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan war Moskau schon lange ein Dorn ein Auge. Ins Amt gekommen durch eine friedliche Revolution, hatte der sich stets um maximale Distanz zum Kreml bemüht. Russland traute ihm nicht. Revolutionen, Straßenproteste – aus diesem Stoff sind die Alpträume der russischen Elite. Lieber wendet sich der Kreml Aserbaidschan zu, dessen Diktator Ilham Alijew seinen Posten von seinem Vater übernommen hatte, einem ehemaligen KGB-Mann. Aserbaidschan ist größer als Armenien, reicher, ein wichtiger Handelspartner Russlands. Auch einen tiefen Konflikt mit der Türkei, dem engsten Bündnispartner Aserbaidschans, kann sich Russland nicht mehr leisten.
Die russischen Friedenstruppen schützten den Korridor nach Bergkarabach kaum noch, nicht einmal internationale Hilfslieferungen erreichten die Region. Frustriert provozierte der armenische Ministerpräsident Russland mit der Aussage, das russische Militär sei durch den Ukraine-Krieg geschwächt und nicht mehr in der Lage, seine Sicherheitsgarantien für Armenien zu erfüllen. "Armeniens Sicherheitsarchitektur war zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden", sagte Paschinjan in einem Interview Anfang September. Das sei ein "strategischer Fehler" gewesen. Demonstrativ trainierten armenische Soldaten unweit der Hauptstadt Eriwan gemeinsam mit US-Soldaten.
Die Armenier fühlen sich verraten
Anna Akopjan, Ehefrau des Premierministers, besuchte etwa zeitgleich die Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska, in Kiew. Tausend Smartphones, Tablets und Notebooks schenkte sie ukrainischen Schülern, die wegen des Krieges nur online unterrichtet werden können. "Wir sind froh, dass wir gemeinsam mit unserem Partner diese Möglichkeiten haben", übermittelte die ukrainische Seite anschließend. "Danke für Ihre Unterstützung!" Danach nahm Akopjan an einem Forum zum Thema "Mentale Gesundheit" teil und erzählte vom schweren Schicksal der Kinder in Bergkarabach. Akopjan traf auch Präsident Selenskyj selbst, Fotografen dokumentierten die Szene. Moskau tobte.
Die Armenier protestieren nun in diesen Tagen wütend gegen ihren Premierminister. Sie werfen ihm vor, dass die Regierung Armeniens die Enklave Bergkarabach nicht hatte schützen können. Sollte sich Paschinjan nicht im Amt halten können, ist das trotzdem noch kein Sieg Russlands. Denn die Armenier fühlen sich auch von der Schutzmacht Russland verraten: Armenien ist sogar Teil des von Russland geführten Militärbündnisses "Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit". Die Wirkungslosigkeit dieses Verbundes demonstrierte Moskau nun eindrucksvoll. Immer wieder hatte Paschinjan vergeblich gefordert, dass die Organisation Armenien mit Soldaten unterstützt.
Während des Blitzkrieges waren auch russische Soldaten der Friedenstruppen ums Leben gekommen. Deswegen rief der Präsident Aserbaidschans bei Putin an. Er wollte sich dafür entschuldigen und kündigte an, die Familien der Toten zu unterstützen. Das meldete der Pressedienst des Kremls. Was Putin antwortete, veröffentlichte er nicht.