Herr Sarjveladze, derzeit fliehen Tausende Armenier aus Bergkarabach, die Lage ist dramatisch – die Gefahr für die Menschen hatte sich allerdings schon lange vor Ausbruch des kurzen Krieges angekündigt, und trotzdem schritt kein Land ein. Warum?
Die internationale und insbesondere die westliche Gemeinschaft ist aktuell stark mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine beschäftigt. Und grundsätzlich ist es für die EU charakteristisch, dass sie ihre Aufmerksamkeit nur dann auf den Südkaukasus richtet, wenn dort ein militärischer Konflikt ausbricht. Der EU fehlt eine einheitliche Strategie gegenüber der Region, die stark von Konflikten, den geopolitischen Interessen vieler externer Akteure und unterschiedlichen außenpolitischen Grundausrichtungen geprägt ist. Außerdem hat die EU große Schwierigkeiten, im geopolitischen Wettbewerb mit anderen Akteuren mitzuhalten, auch wegen ihres mangelnden Profils als sicherheitspolitische Akteurin. Und es fehlt eine klare Vision, welche Rolle der Südkaukasus aus Sicht der EU spielen könnte. In den europäischen Hauptstädten herrscht mehr oder weniger Einigkeit darüber, dass die Region für die Diversifizierung der Energieversorgung strategisch wichtig ist, aber welche Rolle die EU bei der Sicherung von Stabilität und Frieden spielen soll, bleibt weiterhin ungewiss.
Südkaukasus-Forscher Auf die Niederlage folgt der Exodus aus Bergkarabach: "Jetzt steht Armeniens Zukunft auf dem Spiel"

Armenien, Goris: Ethnische Armenier aus Bergkarabach warten in einem provisorischen Lager auf humanitäre Hilfe. Nach dem Angriff auf das Gebiet durch Aserbaidschan fliehen immer mehr Menschen nach Armenien
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Wird Aserbaidschan nach Bergkarabach auch Teile von Armeniens Staatsgebiet besetzen? Und welche Rolle kann Deutschland spielen? Der Südkaukasusexperte Mikheil Sarjveladze über Gefahren und Chancen für Armenien.