Es ist kein Vergnügen, Verbrecher in Rostock zu sein. Seit Charly Hübner als pöbelnder Prollpolizist Bukow seinen "Polizeiruf 110"-Dienst antrat, haben die Schurken an der Ostsee einen Gegenspieler, mit dem nicht gut Kirschenessen ist. Auch weil der rüde Bulle auf den Verhaltenskodex für Beamte genauso pfeift wie auf gesunde Ernährung und tadellose Dienstkleidung.
Charly Hübner musste fast 40 Jahre alt werden, ehe die Filmemacher begriffen, dass es kaum einen besseren deutschsprachigen Schauspieler für ethisch-rechtliche Kippfiguren gibt als ihn. "Unter Nachbarn", ein hundsgemeiner Psychothriller am ARD-Filmmittwoch, belegt das eindrucksvoll. Hübner spielt einen Psychopathen mit Biedermannfassade - sozusagen das Negativbild zu seinem Kripokommissar mit krimineller Vergangenheit.
Maxim Mehmet verkörpert in vortrefflicher Manier die Identifikationsfigur in diesem Festivalbeitrag (Montreal, Shanghai, Hof) des Regiedebütanten Stephan Rick, der auch das Drehbuch schrieb: den jungen, dynamischen Zeitungsreporter David, den es aus Berlin in seine badische Heimat zum "Südwest"-Lokalblatt gezogen hat. Den Stempel drückt dem Film aber eindeutig sein Widersacher auf: Charly Hübner ist Robert, der Nachbar, ein bisschen staksig in den Umgangsformen, Krankenpfleger von Beruf, korrekt gescheitelt, recht freundlich und wahnsinnig hilfsbereit.
Fahrerflucht mit ungeahnten Folgen
Der seelisch-moralische Niedergang des jungen Helden fängt denkbar harmlos an. David leiht sich beim neuen Nachbarn Hammer und Schraubendreher, um seine Regale aufbauen zu können. Für den zurückgezogen lebenden Robert scheint so ein ungezwungener zwischenmenschlicher Kontakt nicht ganz alltäglich. Bei Freundschaften stelle er sich immer etwas ungeschickt an, wird er später gestehen, da sitzen die beiden schon im Auto auf dem Heimweg von der Disko. David übersieht auf der nachtschwarzen Landstraße eine junge Radfahrerin, die nach dem Zusammenprall auf der Stelle verstirbt. Während er am Unfallort noch um Fassung ringt, ist Beifahrer Robert schon wieder ins Auto gestiegen und fordert David eindringlich auf, es ihm gleichzutun. Der Frau sei ja nun nicht mehr zu helfen. Bloß weg hier.
Natürlich ist das ein unverzeihlicher Fehler. Dass er dafür derart bluten muss, hätte sich der junge Journalist aber auch nicht träumen lassen. Während sich der eben noch so unbeschwerte Kerl mit Schuldgefühlen selbst zerfleischt, kümmert sich Robert ums Vertuschen. Er tischt der Polizei ein falsches Alibi auf, lässt den Unfallwagen in einem See verschwinden und will als Gegenleistung nur eines: Nähe zu seinem neuen Freund.
Das dunkle Herz des Spießbürgers
So ganz klar wird es nicht, warum sich ein weltgewandter junger Mann auf einen so einen Sonderling überhaupt einlässt. Ein fataler Fehler ist es allemal. Als David auch noch mit Vanessa (Petra Schmidt-Schaller), der Schwester des Unfallopfers anbandelt, ist die Psychospirale nicht mehr zu stoppen. Der eifersüchtige Robert versucht alles, den "Freund" für sich allein zu haben, was Stephan Rick in seinem tadellosen Langfilmdebüt an imposanten Schauplätzen in braunstichigen Bildern zu inszenieren weiß.
Auf dem Ruderboot beim Angeltrip in der abgeschiedenen Natur gibt's kein Entkommen von der seelischen Umklammerung, die ihre Wurzel am Ort ultimativer Ödnis hat: in Roberts Vorstadthäuschen mit den halb heruntergelassenen Rollläden und dem Wohnzimmertisch mit den Kachelfliesen. Nicht vom Chaos leitet sich das Böse her, sondern von Biedermeier und Spießbürgertum. Insofern ist Charly Hübners prolliger "Polizeiruf"-Kommissar dann doch ein richtig guter Typ. Als hätten wir's nicht schon geahnt.