Gunter Gabriel kennt nur eine Geschichte: seine. Das ist bekannt. Und diese Geschichte erzählt der gelernte Schlosser, der so gerne der deutsche Johnny Cash wäre, so oft wie möglich. Sie ist ja auch nicht schlecht. Sie hat sogar unmittelbar mit Cash zu tun: Gabriel blieb in den 80er-Jahren auf mehreren Millionen Euro Schulden sitzen wegen irgendwelcher Immobiliengeschäfte. Es folgte der Absturz in den Alkohol, die Trennung von seiner Frau und ein Leben im Wohnwagen.
Die direkte Fortsetzung der Geschichte fehlte gestern bei "Beckmann": Wie ihn eine Prostituierte nach Jahren aus dem Sumpf holte, wie er sie zwei Jahre später mit einem Nebenbuhler im Bett erwischte, wie sie mit ihrem Auto flüchtete und er sich mit ihr auf der A2 zwischen Dortmund und Bielefeld eine wilde Verfolgungsjagd lieferte. Gabriel hätte auch diesen Teil gerne erzählt, bloß: Es waren noch andere Leute da. Das konnte dem Sänger nicht gefallen.
Zu allem Überfluss waren unter den anderen Gästen auch noch Intellektuelle. Die hat Gabriel, der Studienabbrecher, schon mal generell gefressen. Ins Visier seines Grolls rückte rasch Christoph Butterwegge, ein Sozialwissenschaftler und Armutsforscher. Der leistete sich den Gabriel-GAU schlechthin: Er kritisierte ihn. Stein des Anstoßes waren die üblichen Posereien des Bauarbeiter-Barden. "Wenn einer ein Fighter ist", blies er durch die Backen und meinte wie immer sich, "dann kommt er schneller unten raus, als wenn einer immer ein Aber hat." Man muss nur ein bisschen flexibel sein, den "Arsch aus der Hose heben" (Gabriel), dann laufen die Beine irgendwann wieder ganz von alleine.
Romantischer Absturz
Der etwas buchhalterische Butterwegge sah beim Thema Armut und Obdachlosigkeit die Gesellschaft im Ganzen gefordert und nicht zuletzt die Politik. Der Niedriglohnsektor müsse mithilfe von Mindestlöhnen eingezäunt, der soziale Wohnungsbau wiederbelebt, der Reichtum von oben nach unten umverteilt werden. Das war nun nicht sonderlich neu und originell, Butterwegge ist auch kein besonders mitreißender Redner. Gabriel ließ die Lefzen hängen wie eine englische Dogge und schien mit seinen Gedanken bei seinem Hausboot im Harburger Hafen zu sein. Eine Breitseite von Butterwegge riss ihn aus seinen Träumereien: Gabriels Maxime, jeder sei seines eigenen Glückes Schmid, sei ein Leitsatz der "neoliberalen Leistungsideologie". Starker Tobak. Fand auch Gabriel.
Der fast 70-Jährige rächte sich auf seine Weise: Er erzählte noch eine Anekdote ("Ich habe im Ersatzteillager der Werkstatt gepennt, wo ich früher immer meinen Jaguar hinbrachte") und resümierte gerührt: "So ein Absturz hat auch eine Romantik." Das wiederum brachte Jenny de la Torre auf die Palme. Sie ist Ärztin und behandelt in einem Berliner Gesundheitszentrum kostenlos Obdachlose. Ihr Alltag ist das Gegenteil von Romantik: Die meisten der Patienten, die zu ihr kommen, sind "nicht wartezimmerfähig", wie sie es nennt. Sie haben keine Krankenversicherung, keinen Ausweis, sind oft alkoholisiert und in einem verwahrlosten Zustand. De la Torre kennt auch den Grund, der viele Obdachlose daran hindert, wieder ins bürgerliche Leben zurückzukehren, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet: die Angst vor Strafverfolgung. Denn auf der Straße sammelt sich schnell allerhand an. Häufigstes Delikt, wer hätte das gedacht: Schwarzfahren.
Einsamkeit als größter Feind
Matthias Heldt ist auf einem guten Weg. Er war wie zur Zeit mehr als 250.000 Menschen in Deutschland ganz unten. Fünf Jahre lang lebte er auf der Straße und teilte sich mit zwei Kompagnons einen selbstgebastelten Biwak. Wie immer mehr Obdachlose kommt er aus dem Mittelstand, er arbeitete als Lokführer. Dann das Schicksals-Staccato: Frau weg, Kind weg, Depressionen, Alkoholismus, Wohnung weg, Platte. Dank des Berliner Projekts "Der Straßenchor" fand er wieder Halt.
So eine familiäre Struktur sei extrem wichtig, weiß die Moderatorin Judith Rakers aus ihren Gesprächen mit Betroffenen. Sie engagiert sich für die Hamburger Obdachlosen-Zeitung "Hinz&Kunzt" und treibt gemeinsam mit ihr ein Hausprojekt voran, das einmal ein Dach für alle bieten soll: für die Redaktion, für die aktuellen Zeitungsverkäufer, aber auch für die ehemaligen, die inzwischen einen Schritt raus aus der Obdachlosigkeit gemacht haben. Denn: Die Einsamkeit und Vereinzelung treibt viele wieder auf die Straße zurück.
Gunter Gabriel, der jetzt wieder richtig viel Cash hat, nachdem er 2007 noch einmal kurz vor der Pleite stand, hat natürlich nicht vergessen, woher er kommt. Das ist immerhin sein Marketingmodell. Einem "Hinz&Kunzt"-Verkäufer drückt er schon mal einen blauen Schein in die Hand ("20 Euro, fertig"), erzählte er stolz, vor einiger Zeit lud er sogar einen Obdachlosen auf sein Hausboot ein ("Danach konnte ich meine Couchgarnitur auf den Müll schmeißen"). Da sei doch die Frage erlaubt und Gabriel stellte sie allen Ernstes: "Wie kann man mit 70 noch so geil drauf sein?"