Ein Ranger-Training in der Wildnis. Das klingt so schön. In der Theorie. Was es aber konkret bedeutet, lerne ich gleich in meiner ersten Nacht. Ich liege in meiner Hütte unterm Moskitonetz, bin schon fast weggedämmert, als es plötzlich neben mir kracht. "Ach du Scheiße!", denke ich und fahre hoch. Mein Herz stolpert. Für einen Moment vergesse ich zu atmen. Beim Abendessen hatten uns die Guides gewarnt, dass wir nachts mit Besuchern rechnen müssten. Unser Camp im Norden des Kruger-Nationalparks ist nicht eingezäunt. "Jaja, ist klar", habe ich mir da noch gedacht und ausgerechnet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich wilde Tiere unter Menschen mischen in etwa so hoch sein müsste wie in Hamburg einem Wolf zu begegnen. Ein Fehler.
Jetzt hocke ich da und starre nach draußen. Die Nacht ist schwarz, gestern war Neumond. Es kracht wieder. Ein eigentümlicher Geruch macht sich breit.Ein bisschen wie im Zoo, nur viel intensiver. Schemenhaft erkenne ich die Umrisse von etwas sehr, sehr Großem. Auch das noch. Hätte nicht einfach ein süßer, kleiner Dachs vorbeikommen können? Aber nein. Muss ja der Elefant sein. Ob ich den wohl mit meiner Kopflampe anleuchten kann, um ein Foto zu schießen? Oder dreht der dann durch und zeigt mir, was sechs Tonnen Körpermasse und Stoßzähne so lang wie meine Arme alles anrichten können?
Es gibt da dieses Video, in dem ein Elefantenbulle einen blauen Kleinwagen umschubst, als wäre das seine leichteste Übung. Das war auch im Kruger-Park, gar nicht weit von hier. Hätte ich mir vor der Abreise besser nicht angeschaut. Unwissenheit kann so schön sein. Jetzt läuft der Clip vor meinem inneren Auge in der Dauerschleife ab, während der Elefant vor meiner Hütte genüsslich einen Ast nach dem anderen vom Nyala-Baum abbricht und drauf rumkaut.
Mir bleibt nichts als Warten. Warten und lauschen und darüber nachdenken, wer oder was sich hier wohl noch so alles rumtreibt. Spinnen? Schlangen? Skorpione? Ahhhhhhhh! Der Elefant zieht weiter. Zum Glück. Dafür fangen gleich danach die Hyänen an zu kichern. Wirklich? Die lachen mich aus, da bin ich mir sicher. Und sie haben recht. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, als ich mich für diese Geschichte gemeldet habe? Ein Hamburger Großstadtkind als Ranger: Das kann nur in die Hose gehen.
Der frühe Vogel putzt sich raus
Am nächsten Morgen wecken uns die Trommeln, noch bevor die Sonne über den Horizont gekrabbelt ist. Ich fühle mich so, wie man sich eben fühlt, wenn man die halbe Nacht lang wach gelegen hat: ausgelaugt, mit schweren Gliedern. Aber wer Ranger werden will, muss um fünf Uhr morgens aufstehen, damit man loskommt, noch bevor sich die Savanne in einen Backofen verwandelt.
Wie Erstklässler am Tag der Einschulung versammeln wir uns um die zwei Safari-Jeeps. Alle etwas aufgedreht und fein herausgeputzt in meist niegelnagelneuen Ranger-Outfits: Wir tragen Hemden in Kaki, olivgrüne Hosen, dicke Wanderboots, dazu Rucksack mit Trinkblase, Fernglas, Kamera, Hut. Eine Woche haben wir Zeit, um zu lernen, was es bedeutet, Ranger in Südafrika zu sein. Dazu zählt Fährtenlesen, zu wissen, wie man sich den Tieren nähert, ihr Verhalten und ihre Mimik deuten zu können und sich und seine Gruppe zu schützen.
Für viele hier ist der Kurs eine Art Bildungsurlaub mit Adrenalinkick. Die Hälfte der Safaris macht man zu Fuß, um den Tieren auf Augenhöhe zu begegnen und dem Busch wirklich nahezukommen. Dazu sitzen wir in Vorlesungen über Ökologie, lösen Hausaufgaben und verbringen Abende unter der Milchstraße mit Sternenkunde. Für manche aber ist der Kurs mehr, nämlich ein Teil der einjährigen Ausbildung zum zertifizierten Field Guide. Wenn sie im Sommer die Abschlussprüfungen bestehen, dürfen sie Gruppen durch die Wildnis führen.
Busch-Basics für Anfänger
Unsere erste Lektion hämmert uns der Guide Calvin auf der Fahrt zum Startpunkt unserer ersten Wanderung ein. Es sind die fünf goldenen Regeln, die jeder befolgen muss, der zu Fuß durch den Busch zieht und überleben will:
"1. Bleibt immer in einer Reihe, damit die Tiere euch als eine große Einheit wahrnehmen.
2. Bleibt immer hinter den Guides und den Gewehren, damit ihr in Sicherheit und aus der Schusslinie seid.
3. Befolgt unsere Anweisungen und zwar zacki, diskutieren können wir später.
4. Seid leise. Redet nicht und versucht zu schleichen.
Und 5., die wichtigste Regel überhaupt: Lauft niemals weg. Wer rennt, verliert. Und zwar immer. Noch Fragen?"
"Und was sollen wir stattdessen tun?", will ich von Calvin wissen. "Stehen bleiben", sagt der nur. Dann überprüft er sein Gewehr, eine Sabi, Kaliber 375 mit fünf Schuss, und wir gehen los. Wir wandern über schmale Wildpfade, vorbei an Büschen mit Dornen so lang wie mein kleiner Finger. Keiner von uns redet, das klappt schon mal, leise sind wir aber nicht. Unter unseren Füßen brechen Äste, wir stolpern über Steine, jedes ach so verdammte trockene Blatt: Wir trampeln drauf. Wer dieses Sprichwort vom Elefanten im Porzellanladen erfunden hat, der war nie mit Nachwuchs-Rangern auf einer Walking-Safari.
Und trotzdem: Alle Tiere verscheuchen wir nicht. Immerhin. In der Ferne zieht ein einsamer Elefantenbulle mit großen Schritten durchs Wasserloch. Wir bleiben stehen, zücken die Ferngläser, beseeltes Schweigen.
"Hört ihr das?", flüstert Calvin. Affen kreischen, schrill und aufgeregt. "Das ist der Alarmschrei der Paviane", sagt er. "Das bedeutet, dass hier irgendwo in der Nähe ein Leopard sein könnte." Zügig schreitet er voran, lauscht, geht weiter, wir hinterher, ein bisschen wie in Trance. Jeder will diesen Leoparden zu Gesicht bekommen, will ein Foto als Trophäe mit nach Hause nehmen. Auf dem sandigen Boden entdecken wir seinen Fußabdruck. Er ist etwas kleiner als meine Hand, die vier runden Zehen zeichnen sich deutlich ab. "Ist noch frisch", sagt Calvin. Aber die Chance, den Leoparden zu sichten, sei gering. "Die sind Meister im Verstecken", meint er. "Du siehst sie so gut wie nie, dafür sehen sie dich." Als wir weitergehen, drehe ich mich immer wieder um. Sind da irgendwo vielleicht doch zwei Augen, die mich verfolgen?
Wir legen eine Pause ein, lassen die schweißnassen Hemden trocknen. "Wieso bist du Guide geworden?", will ich von Calvin wissen. "Ich war mal Elektriker", sagt der. "Ich wusste nach der Schule nicht, worauf ich Bock hatte. Das College war billig, und irgendwas muss man ja machen." Aber dann sei seine Oma gestorben und hinterließ ihm Geld. Da wuchs der Wunsch, was anderes zu lernen. "Ich habe im Internet recherchiert und über die Ranger-Ausbildung gelesen. Das klang irgendwie gut. Dabei hatte ich überhaupt keine Ahnung, was ein Ranger wirklich tut. Aber der Jahreskurs kostete exakt so viel Geld, wie ich geerbt hatte. Muss ein Zeichen sein, dachte ich. Und hab mich angemeldet. Das war vor fünf Jahren." "Und? Nie bereut?", frage ich ihn. "Keinen Tag", antwortet er. "Je mehr man lernt und erlebt, desto besser wird’s."
Die Wildnis schreibt Geschichten
Am nächsten Morgen machen wir Halt vor einem Haufen Elefantenkacke. "Was seht ihr?", fragt uns Chefausbilder Ross. "Sieht anders aus als sonst. Mehr Blätter", sage ich. "Und woran könnte das liegen? Überlegt mal." "Verdauungsprobleme", sagt eine. "Was noch?" Fragende Blicke. "Alles, was ihr seht, erzählt euch eine Geschichte. Der Dung hier stammt von einer alten Elefantenlady, um die 60 Jahre alt. Die meisten Säugetiere müssen in ihrem Leben mit zwei Sets an Zähnen auskommen. So wie der Mensch. Bei Elefanten aber wachsen die Backenzähne sechsmal nach. Diese Dame hat nur noch einen Stummel im Maul. Deswegen kann sie keine harten Äste und Rinde mehr essen, muss auf Gras und Blätter zurückgreifen und trinkt immer mehr, um die kaum zermahlenen Blätter überhaupt noch zu verdauen. Es wird für sie immer schwieriger, ihren Energiebedarf zu decken. Am Ende wird sie verhungern." Die Wildnis kennt kein Mitleid, denke ich. Dafür schreibt sie die traurigsten Geschichten.
Sonne, Wind und guter Stil
Den Nationalpark zu Fuß zu erkunden, ist wie in einem Abenteuerfilm mitzuspielen, ohne fertiges Drehbuch. Man weiß nie, wem man begegnen wird, aber überall gibt es etwas zu entdecken. Tausend Jahre alte Affenbrotbäume, Ameisen, die auf Raubzug und Skorpione, die auf Partnersuche gehen, ein Zebraskelett, dessen Knochen von den Hyänen überall verteilt wurden.
Wir folgen einem Elefantenbullen, immer in gebührendem Abstand, damit der sich nicht bedrängt fühlt. "Du musst ein Gentleman sein, kein Arschloch", sagt Ross. Ab und an schwingt der Elefant seinen langen Rüssel nach hinten, um zu schnuppern, ob wir noch da sind, marschiert dann aber unbeirrt weiter, bis wir ihn ziehen lassen. "Nutzt die Sonne und den Wind zu eurem Vorteil", predigt uns Ross immer wieder. "Versucht, die Sonne im Rücken zu haben, wenn ihr euch Tieren nähert, damit sie geblendet sind. Und wenn möglich, positioniert euch so, dass der Wind euren Duft nicht zu ihnen rüberweht."
Wir gehen an einer Herde Büffel vorbei, im Gänsemarsch, wie wir es gelernt haben. Erst schauen sie uns nur mit ihren großen Augen an, heben das Kinn, so als wollten sie sagen: Hey, was wollt ihr? Hier stehen wir! Dann rennen sie los, in direkter Linie auf uns zu, sodass der Boden unter unseren Füßen bebt. "Alle hinter mich", sagt Ross. Ruhig, aber bestimmt. Er baut sich vor uns auf, wie ein menschlicher Schutzschild, und starrt der Leitkuh direkt in die Augen. Zehn Meter vor uns dreht die Herde ab. Selbst als sich der Staub schon wieder gelegt hat, pocht mein Herz noch auf Hochtouren. "Die wollten uns nur einschüchtern", erklärt Ross gelassen. "Kein Grund zur Panik. Als sie gesehen haben, dass sie damit nicht durchkommen, haben sie aufgegeben."
Ganz oder gar nicht
Ranger ist kein Job, den man auf einer Arschbacke absitzt, das merken wir schnell. Dafür sind die Tage zu lang, ist die Verantwortung zu hoch, der Verdienst zu schlecht und die Gefahr zu groß. Abends nach dem Essen packen die Guides ihre Geschichten aus. Sie erzählen von Skorpionen- und Schlangenbissen, wie nachts bei einem Camp-out die Löwen um die Zelte schlichen oder eine Gruppe von einem übellaunigen Nilpferd verfolgt wurde, weil sie es aus Versehen geweckt hatte. "Und erinnert ihr euch an Biff?", fragt Ross. "Die war am ersten Tag hier, eine Rangerin aus dem Nachbarcamp. Sie wurde im November von einem Büffel niedergetrampelt. Kam mit kollabierter Lunge, Brüchen und einem Loch in der Hand ins Krankenhaus. Hat Monate gedauert, bis sie sich wieder berappelt hat. Seit ein paar Wochen ist sie wieder zurück. Sagt, sie liebt den Job zu sehr um aufzuhören."
Ich verstehe das, mit jedem Tag mehr. Der Busch verändert einen. Er macht einen mutig und demütig zugleich. Er schenkt einem Momente, die so schön sind, dass man heulen könnte. Gefolgt von jenen, bei denen man hofft, man sei nicht das schwächere Glied in der Nahrungskette. "Den letzten Walk machen wir in vollkommener Stille", sagt Ross am Tag vor der Abreise. "Keine Fragen, keine Erklärungen, keine Fotos. Lasst alles auf euch wirken." Da macht es in meinem Kopf endgültig klick. Die Wildnis lässt einen mehr sehen, mehr riechen, mehr fühlen. Sie macht einen lebendig. Mehr geht nicht.
Diese Geschichte stammt aus der elften Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.
