Das Glück der Nacht liegt in einer ehemaligen Squashhalle über Matratzen Concord, Kik und Alfatex. Dort, wo tagsüber Einkaufswagen über den Asphalt rattern, kommen jetzt die ersten Autos angefahren. Gegen neun erscheinen die Alten mit ihrem gepflegten Garagen-Mercedes zum Discofox-Tanzen. Für die Übermütigen muss man sich noch etwas gedulden, die brechen die Nacht erst später an.
Legt man den Kopf in den Nacken, sieht man sechs LED-Buchstaben dabei zu, wie sie ihre Farben wechseln: P.R.A.T.E.R. Der Nachterlebnispark für drei Generationen, die älteste Großraumdiskothek Nordrhein-Westfalens, ein massenkompatibler Partykomplex für alle zwischen 18 und 99, gelegen in der obersten Etage eines Einkaufszentrums. Genau auf der Grenze Bochum zu Herne, eingekesselt von Gelsenkirchen, Wattenscheid und drei Autobahnen. Acht Areas, insgesamt 4000 Quadratmeter Spaß und Suff im größten Ballungszentrum der BRD, dem Ruhrgebiet.
Die Großraumdisco lebt – und zwar über einem Einkaufszentrum in Bochum

Neben einem der Kassenhäuschen im Eingang steht Bärbel Schefberger in einem blauen Mantel und lächelt. Frau Schefberger gehört zum Prater wie der Förderturm zum Ruhrgebiet. Seit fast 30 Jahren überwacht sie als Kassenchefin die Häuschen im Eingang und kümmert sich um die Abrechnungen der Angestellten. Bei den meisten Anekdoten, die schon lange zurückliegen, heißt es: "Da müssen Sie Frau Schefberger fragen, die weiß so was!" Denn Frau Schefberger, die ist einfach von allen am längsten hier. Vielleicht sogar schon immer.
Früher gab es viele Faustkämpfe. Heute Schlimm? Wenn einer sein Handy verliert
Die Alten mit ihren Föhnfrisuren, hohen Hacken, weißen Hemden, Glitzertaschen, Lederjacken, Miniplis und Camp-David-Hemden passieren jetzt die breiten Türsteher sehr schnell, was daran liegen mag, dass sie nicht zu denen gehören, die Ärger machen. Warum sollten sie auch? Ihre wildesten Zeiten haben sie hinter sich. Frau Schefberger grüßt einen Stammgast nach dem anderen und sagt: "Früher kamen die Männer mit Lederschuhen und hellem Sonntagsanzug, heute kommen die jungen Männer alle mit Kappe und Snickers." Sie meint Sneakers. Turnschuhe eben, winkt Frau Schefberger ab, jedenfalls können auch Turnschuhe heute sehr teuer sein. Weiß sie natürlich alles. Frau Schefberger ist 73 und Sekretärin im Ruhestand, aber wenn sie eines hasst, dann über das Altern zu reden. Ist ja schon schlimm genug, dass man alt werden muss. Frau Schefbergers Kinder leben in Berlin. Ihr Sohn ist Regisseur bei "GZSZ". Frau Schefberger lebt in Castrop-Rauxel. Manchmal fährt sie nach Berlin und versucht sich mit der Stadt anzufreunden, aber es gelingt ihr nicht. Denn ihr Zuhause, das ist eben hier.
Frau Schefberger kennt seit Jahren die kleinen und großen Dramen der Gäste. "Früher gab es viele Faustkämpfe", sagt Frau Schefberger. "Am schlimmsten von allem", sagt sie, "ist heute, wenn einer sein Handy verliert. Da haben die ja ihr ganzes Leben drauf." Früher flossen die Tränen wegen Frauen, heute wegen verlorener Smartphones.
Während die Alten im Tanzhaus verschwinden, erscheinen endlich die ersten Übermütigen. Sie haben ihre wildeste Zeit noch vor sich, und das wissen sie auch. Man sieht ihnen ihre jugendliche Überlegenheit an, während sie mit ihren dicken Auspuffrohren über den Parkplatz röhren, die selbst gebauten Musikanlagen am Anschlag. Manch eine lustige Mädelsgruppe leert noch eine Flasche Sekt gemischt mit Maracujasaft vor dem Eingang des Praters, was besonders heute nicht weiter verwunderlich ist. Denn auf dem Programm steht: Pretty-Women-Party. Mit Menstrip, Candyboys, Make-up-Artists, Rosenkavalieren und Airbrush-Tattoo-Service. Außerdem tritt heute Sixx Paxx auf. Eine strippende Männerformation mit nicht zu übersehenden Sixpacks. Berühmtestes Mitglied war lange Zeit Marc Terenzi, der Ex-Mann von Sarah Connor.
Die übermütigen Männer tragen, wie von Frau Schefberger vorausgesagt, fast alle Turnschuhe, die Frauen – möglicherweise ein Ruhrgebiets-Trend des 21. Jahrhunderts – dunkle Augenbrauen und künstliche Wimpern, so aufgetunt wie manch ein Karren auf dem Parkplatz. Ein paar der Übermütigen verziehen sich zuerst in die Halle, in der Hip-Hop und R ’n’ B gespielt werden und in der es stark nach Männerdeodorant riecht. Aber die meisten der Übermütigen wollen in den Dom, die Haupthalle mit der drehbaren Tanzfläche und den Käfigen und der Lasertechnik. Dahin, wo es richtig ballert. Ein Mitglied aus "Team Bride" aus Bottrop steht dort im Blitzlichtgewitter und sagt: "Wir geben heute richtig Gas!" Es klingt wie eine Drohung an die Nacht.
"Wir haben keine Zielgruppe. Unsere Zielgruppe ist jeder!"
Die Einlassregeln im Prater sind jeden Freitag und Samstag dieselben: fünf Euro Eintritt, fünf Euro Mindestverzehr. "Macht zehn Euro pro Kopf Minimum", sagt Thorsten Scheibe. Scheibe ist Betriebsleiter und für die Finanzen des Praters zuständig. Die Chefin des Praters kommt aus einer Schaustellerfamilie, ihr Ex-Mann besaß einen Autoscooter, ihr neuer Mann führt ein Bestattungsunternehmen. Die XXL-Diskothek übernahm sie zunächst mit ihrem Ex-Mann. Seit 2006 führt sie den Prater allein weiter.
Zielgruppe vom Prater war immer schon die breite, spaßbereite Masse. Oder wie es Scheibe formuliert: "Wir haben keine Zielgruppe. Unsere Zielgruppe ist jeder!" Aber auch für den Mainstream müsse man sich immer was Neues einfallen lassen, denn: "Wer stagniert, verliert." Nicht umsonst stehen heute auf dem Damenklo zwei Typen, die sich Tie Jay und Sammy nennen. Sie tragen Handtücher um die Hüften, ihr Brusthaar ist akkurat entfernt. Sie sind von einer lokalen Stripagentur, wer möchte, kann sich an ihren Hintern und Hüften die Hände abtrocknen. "Lebende Handtücher" nennt sich das Ganze.
In den letzten Jahren haben sich Großraumdiskotheken immer absurdere Aktionen einfallen lassen. 2013 machte ein Laden in Cuxhaven Schlagzeilen mit dem Slogan: "Wer den Liliputaner einsperrt, bekommt einen Flatscreen!" So warb die Disco für eine Party. Am Ende stürzte der 42-jährige Kleinwüchsige, den man zum Zweck dieser Vollidiotenidee engagiert hatte, von einem Podest, verletzte sich den Halswirbel und musste auf die Intensivstation.
Der erste Disco-Boom setzte in den Siebzigern mit "Saturday Night Fever" und John Travolta ein. In den Neunzigern entstanden plötzlich große Multifunktionsdiskotheken mit Schaumparty und Bierbörse. Beliebt waren sie vor allem im Ruhrgebiet und in der Provinz. Aber seit Jahren findet eine sogenannte Marktbereinigung statt.
Der Delta Music Park in Duisburg ist abgerissen worden. Auch das Prisma in Bottrop oder das Tarm-Center in Bochum haben geschlossen. Die Liste der ausgestorbenen Discosaurier ist lang. Ein bekannter Partyveranstalter sagte mal, man solle im Ruhrgebiet lieber sein Geld in ein veganes Restaurant investieren als in eine Großraumdiskothek. Die Großraumdisse als Sehnsuchtsort scheint heute vielen eher eine sentimentale Erinnerung zu sein an eine längst vergangene Zeit. An ein Stück altes Deutschland, aus der Mode gekommen wie aufblasbare Sessel, Walkman und Lavalampe.
Betriebsleiter Scheibe sagt, leichter sei es natürlich nicht geworden, durch den Strukturwandel fehle vielen das Geld, Strom- und Personalkosten seien gestiegen, das Internet macht der analogen Party Konkurrenz, und die geburtenschwachen Jahrgänge tun ihr Übriges. Aber: Tausende Besucher, ob alt oder übermütig oder irgendwas dazwischen, kämen ja immer noch jedes Wochenende in den Prater. Das Problem ist bloß: Zuletzt kamen nicht mehr genug für 5000 Quadratmeter. Deshalb haben sich die Betreiber entschlossen, gut ein Fünftel der Mietfläche abzugeben. Auf Immobilienscout24 stand die Anzeige. 1000 Quadratmeter, Baujahr 1989, Preis auf Anfrage. Der Teil, in dem jetzt die Alten tanzen, ist seitdem viel kleiner. "Rückbau" nennt sich das. Verkleinerung. Scheibe selbst nennt es eine "Investition in die Zukunft".
"Habt ihr Bock auf richtig geile Männerärsche?"
In der Haupthalle schreit der DJ: "Habt ihr Bock auf richtig geile Männerärsche?" Kurz darauf betreten Sixx Paxx die Bühne. Die Begrüßung der Stripper aus Berlin geht im Gekreische unter. Scheibe steht am Rand der Bühne und hält sich die Ohren zu. Es wird zu den Backstreet Boys getanzt. Eine junge Frau mit schwarzen Haaren wird von den Jungs auf die Bühne geholt, auf einen Stuhl gesetzt und von einem Muskelmann herumgeschleudert. Als ein paar Stripper ihre schweißdurchtränkten Unterhemden in die Menge werfen, presst sich eine Frau das nasse Hemd wie einen Waschlappen ins Gesicht. Später können sich die Gäste mit den Strippern fotografieren lassen. Aus den Boxen dröhnt "Bella Ciao, Bella Ciao".
Frau Schefberger kommt von den Kassenhäuschen hoch und sagt, sie schaue sich diese Auftritte gar nicht mehr an. Am Ende gleiche ja ein Arsch immer dem anderen. Aber das Schlimmste für sie sei, wenn sie irgendwann hier nicht mehr gebraucht werde. Die Tochter der Geschäftsführerin, die Joy, die werde bald 18 und soll an der Kasse anfangen. Aber allein zu Hause rumsitzen, dafür sei sie nicht gemacht. Vielleicht formuliert Frau Schefberger damit ein Gefühl, das man in der Großraumdisco einfach besonders gut kompensieren kann: sich nicht so einsam fühlen inmitten von vielen. Auch wenn die meisten Menschen in der Masse Fremde bleiben.
Gegen vier Uhr früh ist die Schlange an den Garderoben lang. Die meisten beenden jetzt ihre Nacht. Die Alten haben sich bereits davongestohlen. Ein paar Übermütige tigern noch unruhig durch die fast leeren Hallen, als suchten sie etwas, das sie noch nicht gefunden haben. Im Saray Grill nebenan schmatzen die letzten Gestalten der Nacht dem Morgen entgegen. Dabei schauen sie auf einen Parkplatz, das Licht der wegfahrenden Autos blendet ihre müden Augen. Es riecht nach Zwiebeln, Alkoholatem und Frittenfett, als einer ausspricht, was sonst noch in der Luft zu liegen scheint: "Nee, wat war dat wieder schön gewesen."
Wenig später verlässt auch Bärbel Schefberger den Prater, steigt ins Taxi und fährt heim nach Castrop-Rauxel.
Diese Geschichte stammt aus der zwölften Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.