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Bayern-Reihe "Bei Herrmanns dahoam" Monate vorher muss die ganze Familie kuschen, denn das Töchterchen hat "Sorry, Abi-Stress!"

Ein Mädchen sitzt gestresst am Labtop
Lärmempfindlich, hypersensibel und super gestresst: Das Abitur nimmt Einfluss auf das gesamte Familienleben (Symbolbild)
© AntonioGuillem / Getty Images
Für den stern erzählt Autorin Claudia Herrmann mit einem ordentlichen Schuss Selbstironie, wie es bei ihnen "Dahoam in Bayern" so zugeht. In der ersten Folge widmet sie sich Tochter Hannah, die das Familienleben mit "Abi-Stress" im Griff hat.
Von Claudia Herrmann

Meine Tochter macht Abitur! Ich betone das an dieser Stelle, weil sie bei uns die Einzige in der Familie ist, die das hinbekommen hat (hoff ich doch mal, dass sie dann auch besteht). Wir haben alle nur Realschule. Sind also der Pöbel. Meinen Eltern war das alles nicht so wichtig. Die dachten eher pragmatisch, heißt: Tochter auf dem Gymnasium – Studium – hohe Kosten oder Tochter auf der Realschule – gleich Beruf – weniger Kosten. Da war die Entscheidung schnell klar. Und als Kind ist das natürlich auch viel attraktiver, nur zehn Jahre zur Schule zu gehen anstatt zwölf oder dreizehn.

Das hat mein Sohn auch für sich selbst erkannt und mir eines Tages eröffnet, dass er auf gar keinen Fall aufs Gymnasium geht. Er tendiere zur Hauptschule und ich könnte wirklich, wirklich froh sein, wenn’s zumindest die Realschule wird. Gut, dachte ich mir, nehm ich die Realschule. Irgendwann hat man dann bei uns in Bayern eine Schulreform durchgeführt, die meinen Sohn dazu bewegt hat, die Schulwahl wieder infrage zu stellen. Damals hatte die Hauptschule einen schlechten Ruf. Also hat man einfach auf die "Hauptschule" "Mittelschule" geschrieben. Das war's. Sonst blieb alles gleich. Der einzige Sinn dahinter war, dass die Mütter in Zukunft bei der Verwandtschaft sagen konnten: "Mein Sohn ist auf der Mittelschule!" und man damit  nicht mehr ganz so peinlich dastand. Der Abschluss war trotzdem im besten Fall Quali [Qualifizierender Hauptschulabschluss, Anm. d. Red.]. So lösen wir die Probleme geschickt hier in Bayern. Mein Sohn hat das natürlich auch gleich spitzgekriegt und mir vorgeschlagen, jetzt doch auf die Mittelschule zu gehen. Das faule Stück! Aber da muss der kleine Stinker schon früher aufstehen.

Abi, eine große Sache!

Mein Mann hat auch nur Realschule. Aber er hat das Abendgymnasium gemacht. Zwei Jahre lang! Einen Monat vor der Prüfung hat er alles geschmissen, weil er dachte, er hat's jetzt sowieso kapiert. Außerdem wollten seine Motorrad-Kumpels und er eine fünfwöchige Rundreise durch Frankreich machen. Aus diesen Gründen haben wir alle kein Abitur.

Dass die ganze Sache mit Töchterleins Abitur größer wird als erwartet, wurde mir am Elternabend vor zwei Jahren klar. Hannah war damals in der Zehnten und die Schülersprecherin aus dem Abiturjahrgang der Q12 sollte uns ein Projekt vorstellen. Sie kam dann zu dem Elternabend um 19 Uhr eine halbe Stunde zu spät und entschuldigte sich mit den Worten: "Sorry, Abi-Stress!" Alle anderen Eltern nickten verständnisvoll. Ich dachte irritiert darüber nach, dass das Abitur ja erst im Mai beginnt. Wir hatten November.

Monate vorher ein Thema: das Abiballkleid

Dann musste ich die Karten für den Abiturball ein Jahr lang im Voraus bestellen. Der Abiturjahrgang war recht groß, dementsprechend rar die Karten. Uns wurde gesagt, dass wir uns glücklich schätzen könnten, Karten für Hannah und beide Eltern zu bekommen. Dass ihr Bruder auch mitkommen kann, scheint leider recht aussichtslos.

Dann hab ich meine Arbeitskollegin sechs Monate vor dem Ball mal gefragt, ob sie mit ihrer Tochter schon mal über das Abiballkleid geredet hat. Die hat mich ungläubig angesehen und mir erklärt, dass sie das schon seit drei Monaten daheim hätten. Ist auch schon umgenäht. Die Tochter wollte eigentlich ein Kleid für 600 Euro, aber sie hat das reglementiert auf 450 Euro. Sie sei da recht resolut. Ich dachte eigentlich, ich fahr mit meiner Tochter zu C&A und kauf da ein schönes Kleid für unter 100 Euro. "Habt ihr etwa noch kein Kleid?", reißt sich mich aus meinen Gedanken. "Doch, … fast."

Porträt Claudia Herrmann
Claudia Herrmann sagt über sich selbst: "Ich bin nicht die beste Mutter und auch nicht die beste Ehefrau. Und ganz sicher nicht die beste Tochter. Perfektion können andere – ich nicht. Ich habe irgendwann beschlossen, dass mir das egal ist."
© Privat

Ruhe, bitte!

Zwei Monate vor dem Abi kam Hannah nach 17.30 Uhr halbstündlich ins Zimmer ihres Bruders, um diesen mit körperlicher und seelischer Gewalt dazu zu zwingen, den Fernseher, Musik, Computer leiser zu machen – weil sie fürs ABITUR lernen muss! Eine halbe Stunde später kam sie noch mal ins Zimmer, um die Lautstärke ein weiteres mal zu reduzieren. Brüderlein hat dann nach kurzer Zeit auf Kopfhörer umgestellt. Das war der Zeitpunkt, als sie immer runtergekommen ist und entnervt gefragt hat, ob wir nicht etwas leiser fernsehen könnten. "Natürlich!", haben wir erschrocken gesagt und die Lautstärke von 24 auf 21 reduziert. Das Prozedere wurde dann einige Male wiederholt, in denen Fräulein Tochter immer genervter schien, bis wir bei Lautstärke 14 landeten. Mein Mann fragt während des Fernsehens jetzt des Öfteren "Was hat er gesagt?" und ich kann nur achselzuckend zurück blicken.

Neulich bin ich mal mittags heimgekommen und habe meine Tochter in ihrem Zimmer vorgefunden, auf dem Boden sitzend in einem Wust von Zetteln, die Heavy-Metal-Musik in voller Lautstärke. "Was machst du da??", rufe ich ihr zu. "Ich lerne!", brüllt sie zurück. "Bei der Lautstärke?", jetzt brülle ich auch. "Kann mich dann besser konzentrieren!" Kopfschüttelnd verließ ich den Raum.

Die Nerven liegen blank

Dann ging die Phase los, in der sich keiner getraut hat, Hannah auch nur anzusprechen, weil sie ständig losging wie ein kleines Bömbchen. Immer wenn sie im Raum war, haben sich alle anderen beschwichtigende Blicke zugeworfen, das Jungtier ja nicht zu provozieren oder in eine Diskussion zu verwickeln. Sonst ist gleich wieder die Milch sauer. Und sie verlässt vorwurfsvoll den Raum mit den Worten: "Ich muss ja nur ABITUR schreiben!"

Sechs Wochen vor dem Abitur hatte der weibliche Welpe keine Schule mehr und war den ganzen Tag zu Hause. Als ich sie nach drei Tagen gebeten habe, doch mal durchzusaugen, hat sie mich nur verständnislos angesehen mit den Worten: "Mama ich hab bald ABITUR!" Das ich jeden Tag acht Stunden arbeite und zusätzlich koche, putze, bügle, wasche, einkaufe und diverse Fahrdienste übernehme, wurde verständnislos zur Kenntnis genommen. Sie hat aber ABITURPRÜFUNG!!

Claudia Herrmann, "Voll ungechillt! Wie ich die Pubertät meiner Kinder überlebte", 282 Seiten, Rowohlt, 9,99 Euro, hier bestellbar

Läuft nicht so ...

Dann kamen die ersten Prüfungen. Ich hab sie jedes Mal direkt danach freudestrahlend gefragt, wie es lief, um Antworten zu erhalten wie: "Scheiße!" "Es kam was anderes dran wie gedacht!" "Die Fragen waren unfair!" "Die Französisch Listening schwer hörbar!" "Blackout!" "Mathe deutlich schwerer als die letzten 15 Jahre!" "Kreislaufschwäche!" "Themaverfehlung." Wohingegen die Tochter meiner Arbeitskollegin immer berichtete: "Es lief eigentlich ganz gut!"

Ich glaube, ich kann das Wort "Abitur" nicht mehr hören.

Gestern hab ich mit meiner Kollegin noch mal übers Abitur geredet und ihr mitgeteilt, dass ich mich an dem Tag, an dem ich erfahre, dass sie das scheiß Abitur auch bestanden hat, schwer besaufen werde. Sie hat recht laut gelacht und mir kopfschüttelnd über den Rücken gestreichelt. "Wenn man's nicht wüsste, würde man glauben, du meinst das ernst."

Stimmt! Das reicht fast nicht aus. Vielleicht sollte ich ja auch meinen Sohn nach einem kleinen feinen Joint für den Abend fragen. Hab ich zwar noch nie geraucht, sowas. Aber vielleicht wäre das ja mal ein entsprechender Anlass.

Bayern-Reihe "Bei Herrmanns dahoam": Monate vorher muss die ganze Familie kuschen, denn das Töchterchen hat "Sorry, Abi-Stress!"

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