Ganz sicher wäre jedes einzelne Schicksal jedes einzelnen Flüchtlings eine Geschichte wert: die Bedingungen in den Herkunftsländern, egal ob Afghanistan, Syrien oder am Horn von Afrika. Die Gründe, die Heimat zu verlassen, die extremen Strapazen auf dem Weg. Die Hoffnungen, die mit der Entscheidung zu fliehen verknüpft sind. Die Geschichte der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar kann man deshalb doppelt verstehen, sie steht als Pars pro toto für alle Menschen, die Ähnliches erlebt haben, sie erzählt aber auch von diesem einen Mädchen, das seinen Traum leben wollte. Und das dabei umkam.
Als eine von nur zwei Vertretern aus Somalia nahm Samia Yusuf Omar 2008 in Peking an den Olympischen Spielen teil. Die zarte Sprinterin trug bei der Eröffnungsfeier stolz die Flagge ihres Landes durchs Stadion, blau mit einem großen weißen Stern. Sie trat im 200-Meter-Lauf an und war mit ihrer persönlichen Bestzeit von 32,16 Sekunden noch immer mehr als zehn Sekunden langsamer als ihre Konkurrentinnen. Doch Samia hat sich in die Herzen der Zuschauer gelaufen, die ihr beim Übertreten der Ziellinie lautstark applaudierten. Ein anrührendes Video zeugt noch davon.
Schlechteste Voraussetzungen
Zurück in Mogadischu erkennt Samia aufgrund ihrer frischen Eindrücke aus Peking, dass sie bei den Olympischen Spielen 2012 in London chancenlos bleiben würde, wenn sie weiterhin zu Hause trainiert: Die Nahrung für die siebenköpfigen Familie – ihr Vater war 2006 erschossen worden, ihre Mutter arbeitete an einem Obststand und Samia hatte noch fünf jüngere Geschwister – bestand aus Reis und Bananen. Zu wenig nahrhaft für eine Athletin. Das Coni-Stadion, in dem sie trainierte, war von Kugeln durchsiebt, pflanzenüberwuchert und die Laufbahn voller Löcher. Gefährlich für eine Läuferin. Und die islamistischen Extremisten hatten das Laufen für Frauen verboten, sodass schon jeder Weg zum Training unter großem Risiko zurückgelegt werden musste. Belastend für eine Sportlerin.
An diesem Punkt beginnt Reinhard Kleist mit seiner Graphic Novel "Der Traum von Olympia". In Schwarz-Weiß und mit kräftigem Strich erzählt der Illustrator nach, was dem Mädchen, das seinen großen Traum leben wollte, widerfuhr. Zunächst in Mogadischu, später auf der Flucht. Kleist nahm für die Rekonstruktion Kontakt zu Samias Schwester Hodan auf, der 2006 die Ausreise nach Helsinki geglückt war. Er ließ sich auch von den vielen Facebook-Nachrichten erzählen, mit denen Samia Freunde und Verwandte über ihr Vorankommen unterrichtete. Die Statusmeldungen übertrug er sinngemäß in sein Buch.
Mit Kopf und Herz schon in Italien
Fast ein Jahr war Samia von Somalia über den Sudan bis nach Libyen unterwegs. Zwischendurch vergingen Wochen, in denen die 20-Jährige nur warten konnte – auf einen Bus, auf einen Tipp, auf ein Wunder. Die Erlebnisse unterwegs, wie jeder Schleuser aus der Not der Flüchtenden noch seinen Vorteil ziehen will, die Grausamkeit, mit der die Schwächsten zurückgelassen werden und, nicht zu vergessen, Hunger und Durst spiegeln sich immer wieder in Samias verzweifeltem Gesicht. Stets rechnet sie parallel mit, ob ihr in Italien noch genug Zeit bleiben würde, um wieder zu Kräften zu kommen – und ausreichend trainieren zu können.
Doch bis Italien kam Samia nicht. Sie stieg in ein Schlauchboot, obwohl sie wusste, dass sie damit auf dem Meer kaum eine Chance hatte. Sie wollte endlich ankommen nach der langen Reise. Sie hätte auf kein anderes Boot hoffen können, also riskierte sie ihr Leben. Sie war erst ein paar Tage zuvor 21 Jahre alt geworden. Ihr Boot ging vor Malta unter.
Der Leser bleibt nach der Lektüre dieser Graphic Novel nicht glücklich zurück. Kein Happy End, keine Seiten, die plötzlich Farbe tragen. Doch das sichere Wissen, dass Samias Schicksal nicht vergessen werden darf und für so viele Menschen steht, hinterlässt das Gefühl, ein wenig miterlebt zu haben. Ahnen zu können, was die Menschen, die sich derzeit in Zelten und auf Fußböden in deutschen Unterkünften drängen, durchgemacht haben. Danke dafür, Reinhard Kleist.